Historie:Das Schwert der Diplomatie ist stumpf geworden

German Chancellor Angela Merkel Visits Turkey

Merkel und Erdoğan 2015 auf dem Thron in Istanbul.

(Foto: Guido Bergmann/Getty Images)

In diesen Tagen, in denen Erdoğan schimpft und wütet, scheint die Diplomatie wirkungslos. Sie hat schon bessere Zeiten erlebt. Ein Rückblick.

Von Stefan Kornelius

Die Geschichte war nicht gerecht zu Mohammed II. Der Mann regierte von 1200 bis 1220 Choresmien, eine historische Landschaft in den Breiten des heutigen Usbekistan und Turkmenistan. Er führte sein Land zu Blüte und neuer Größe. Aber er verstand offenbar zu wenig von Diplomatie.

1218 unterlief dem Schah eine tödliche Fehleinschätzung. Sein Nachbar im Norden war das mongolische Reich. Dessen Großfürst Dschingis Khan hatte Emissäre in den Süden geschickt, sie sollten Handelsmöglichkeiten erkunden. Mohammeds Leute verhafteten die Gesandten aber als Spione. Dschingis Khan sandte daraufhin eine zweite Delegation, wieder in vermeintlich friedfertiger Handelsabsicht. Außerdem verlangte er die Freilassung seiner Leute und die Bestrafung des für den Zwischenfall zuständigen Provinzverwalters. Mohammed traute dem Braten nicht, ließ auch die zweite Gruppe festnehmen - und später köpfen. Ein paar Emissäre wurden mit abgesengten Bärten zurück ins Mongolenreich geschickt.

Konstantinopel verstand es, Macht mit diplomatischem Geschick zu sichern

Dschingis Khan war nicht amüsiert über die Behandlung, wie ein Beobachter später mit zitternder Hand notierte: "Die Nachricht hatte eine solche Wirkung auf den Khan, dass seine Kontrolle über die Reaktion und seine Gelassenheit verloren gingen, ein Zornessturm wehte Sand in seine Augen der Geduld und Güte, während die Wut eine derartige Flamme in ihm entzündete, dass Wasser in seinen Augen austrocknete und (das Feuer) nur durch ein Blutvergießen gelöscht werden konnte."

Gelöscht wurde das Feuer auf mongolische Art, das Blutvergießen war enorm: 1220 überfielen die Mongolen Choresmien und löschten das Reich aus. Eine blühende Kultur wurde zerstört, Mohammed II. bezahlte mit seinem Leben. Misstrauen und - wie man heute sagen würde - die Unfähigkeit zum politischen Dialog mündeten in Krieg und Zerstörung.

Dabei hätte der Choresm-Schah durchaus informiert sein können über das delikate Spiel mit den Nachbarn und die Kunst des politischen Dialogs. Ein besonders beständiges Herrschaftsgebiet seiner Zeit lag nur wenig weiter westlich: das byzantinische Reich mit Konstantinopel in seinem Zentrum. Es verstand Macht und Größe nicht nur mit militärischen Mitteln, sondern vor allem mit diplomatischem Geschick zu sichern.

Historie: Charles Gravier, der Graf von Vergennes, war ein versierter französischer Diplomat und später gar Außenminister. Hier antichambriert er 1755 bei Sultan Osman III. am Hof von Konstantinopel. Abb.: Bridgeman

Charles Gravier, der Graf von Vergennes, war ein versierter französischer Diplomat und später gar Außenminister. Hier antichambriert er 1755 bei Sultan Osman III. am Hof von Konstantinopel. Abb.: Bridgeman

Dort, wo heute Recep Tayyip Erdoğan ein modernes Sultanat errichtet, hatte sich tatsächlich eine veritable diplomatische Kultur entwickelt, die allein dem Ziel diente, den Umgang mit benachbarten Dynastien und den vielen Ethnien im Reich zu kontrollieren, Kriege zu vermeiden und damit auch Militärausgaben zu sparen. Die byzantinische Diplomatie nutzte Abhängigkeiten, drohte, intrigierte zwischen rivalisierenden Völkern und bastelte fleißig an kleinen und großen Bestechungen.

Byzanz lieferte die Schablone, nach der noch heute Diplomatie funktioniert

Mitglieder fremder Herrscherfamilien wurden zum Teil über Jahre an den Hof in Konstantinopel eingeladen, wo sie überwältigt oder gar bestochen von Prunk und Lebensfreude Berichte in die Heimat schickten, in denen Größe und Stärke des Kaisers nie infrage standen. Eine eigene Abteilung kümmerte sich bei Hofe um potenzielle Barbaren und damit Feinde - das Scrinium Barbarorum bildete so etwas wie einen Auslandsgeheimdienst. Zuständig auch für das Protokoll und die Übersetzungsdienste, erfüllten die Beamten zwei Funktionen: Sie schmeichelten den Gästen und spionierten sie gleichzeitig aus.

Die Diplomatie-Maschine von Byzanz diente demselben Ziel, das Herrscher in ganz Europa spätestens seit Beginn der Renaissance systematisch verfolgten: Wie kann ich meine Interessen durchsetzen, wie kann ich rivalisierende Mächte in Schach halten, ohne gleich Soldaten schicken zu müssen? Die moderne Diplomatie, gewachsen in der Konkurrenz norditalienischer Herrscherhäuser, entfaltete ein gelegentlich prachtvolles und immer zutiefst strategisches Eigenleben, in dem sich manchmal nur die Machtfantasien weniger Personen und ihre Eitelkeiten, aber auch ganz natürliche Staatsinteressen und Herrschaftsrivalitäten spiegelten.

Eine reine Erfindung der Neuzeit ist die Diplomatie nicht. Griechen, Inder und Chinesen nutzten in vorchristlicher Zeit Diplomatie als Verwaltungs- und Herrschaftsinstrument. Der erste überlieferte Friedensvertrag zwischen Ägyptern und Hethitern von etwa 1259 v. Chr. zeugt vom regen diplomatischen Austausch und bedient sich eines wichtigen Tricks, den Diplomaten bis heute zur Wahrung von Gesicht und Interessen anwenden: Jede Vertragspartei ließ ein Schriftstück in eigener Sprache anfertigen, in dem der Friedensschluss dann zum eigenen Vorteil ausgelegt wurde.

Byzanz lieferte die Schablone, nach der heute noch Diplomatie funktioniert. Regelwerk, Rituale, Gunstbekundungen, subtile Zeichen, die alles Martialische aus dem Staatengeschäft herausnehmen sollen und zunächst nur ein Ziel verfolgen: Die andere Seite sollte gefügig bleiben. Im altbackenen Deutsch hat "byzantinisch" nicht ohne Hintersinn die Bedeutung von unterwürfig und schmeichlerisch. Der böszüngige Kurt Tucholsky setzte seine Stiche genau, als er über den Reichsaußenminister schrieb: "Was Rathenau vom Kaiser aussagt, ist noch im Tadel byzantinisch ... in den harmlosen Worten, in denen Rathenau sagt, er habe mit dem Kaiser soundsooft gesprochen, liegt eine Lakaiendemut, die fast unerklärlich ist."

Was war das für ein Zeichen, als Adenauer den Teppich der Hochkommissare betrat

Lakaiengehabe oder Intriganz sind der Diplomatie nicht wesensfremd - der Umgang zwischen Diplomaten und ihrem Gastland wurde schließlich vom höfischen System geprägt. Viele Jahrhunderte lang wurden Botschafterpositionen in der Regel mit Vertretern aus dem Adel besetzt, ob sie nun qualifiziert waren oder nicht. Dahinter verbarg sich nicht nur der Wunsch, möglichst standesgemäß auf der anderen Seite akzeptiert zu werden. Manchmal musst eine verdiente Nobilität auch einfach nur mit einem würdevollen Posten versorgt werden. Das amerikanische Botschaftersystem kennt diese Gunstbezeugung noch heute.

All die Rituale der Diplomatie - Agrément, Beglaubigungsschreiben, Notifizierungen, Hoheitssymbole, Sonderrechte wie der Diplomatenpass oder das eigene Autokennzeichen - haben sich über Jahrhunderte entwickelt. Diplomatische Ränge, ähnlich gestaffelt wie beim Militär, wurden 1815 beim Wiener Kongress international angeglichen, was protokollarische Wirren reduzierte. Plötzlich war klar, wer in welcher Reihenfolge und mit welchem Titel anzusprechen war, wer in der Kolonne vorne fahren und beim Bankett im korrekten Abstand zum Herrscher sitzen durfte.

Einbestellung

Der deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann, zählt vermutlich nicht mehr, wie oft er in den vergangenen Monaten zu einem Gespräch ins Außenministerium seinen Gastlandes "einbestellt" wurde. Der Terminus Einbestellung soll die Dringlichkeit und die Ernsthaftigkeit signalisieren, mit dem ein Staat einem anderen Staat seine Position mitteilt. Allerdings gehört es zum Tagesgeschäft, dass sich Botschaften mit unterschiedlichen Regierungsstellen ihres Gastlandes austauschen und politische Positionen transportieren. Kommt es also zu einer Einbestellung, dann gilt das Signal vor allem der Öffentlichkeit. Die Politik möchte gut sichtbar Dampf ablassen und bedient sich eines Werkzeugs, das in Zeiten der Instant-Kommunikation und der Twitter-Präsidentschaft an Bedeutung verloren hat. Noch während also der Botschafter zum Rapport erscheint, haben Präsident und Außenminister in alle Mikrofone gesprochen.

Zeremonielle Details, etwa die Übergabe von Gastgeschenken, können bis heute überladen werden mit subtilen Botschaften. Die Höhe der Stuhllehne, die Empfangsrituale mit militärischen Ehren, die Länge des roten Teppichs - alles Symbole der Staatenkommunikation.

Als Konrad Adenauer Geschichte schrieb

Konrad Adenauer setzte beim Antrittsbesuch den Fuß auf denselben Teppich, der eigentlich den Hohen Kommissaren der Besatzungsmächte vorbehalten war. Das Foto vom neuen deutschen Selbstbewusstsein vier Jahre nach Kriegsende machte Geschichte. Als der französische Präsident Nicolas Sarkozy 2007 zum Antrittsbesuch bei Angela Merkel aus dem Auto stieg, stand er einen Moment unschlüssig an der Wagentür - offenbar erwartete er, dass die Kanzlerin zur Begrüßung auf ihn zukommen würde. Weil aber er es war, der seinen ersten Besuch absolvierte, musste er die paar Meter zu Merkels ausgestreckter Hand laufen.

1963 wurde die Wiener Übereinkunft über konsularische Beziehungen geschlossen, inzwischen ist sie von 179 Staaten ratifiziert. Der völkerrechtliche Vertrag ist bis heute die bindende Grundlage für das diplomatische Geschäft und schützt seine Vertreter vor Willkür und Rechtlosigkeit.

Keinen Schutz bietet die Wiener Übereinkunft indes vor den Stürmen der modernen Politik, die auch das Diplomaten-Gewerbe verändert haben. Zwar sind die Botschafter noch immer die offiziellen Vertreter eines Landes und tragen damit die Souveränität und Bedeutung einer Nation in die Welt. Aber kein Politiker wartet heute mehr auf eine Depesche oder hört ausschließlich auf den Rat des Emissärs, der gerade von einer mehrmonatigen Erkundung aus fernen Weltgegenden zurückkehrt. Drahtberichte (Amtsjargon für Botschaftsanalysen) sind im Zeitalter von Hyperkommunikation häufig so langweilig wie die Zeitung von vorgestern. Und im Zweifel erfährt ein Botschafter nie, was etwa die Kanzlerin und der amerikanische Präsident vertraulich am Telefon vereinbart haben. Die Gipfeldichte bringt Staats- und Regierungschefs häufiger denn je zusammen, und nur die Botschafter der wirklich relevanten Akteure der Weltpolitik genießen den direkten Zugang etwa zu den engsten Beratern von Außenminister oder Kanzlerin.

Diplomaten zetteln heute keine Kriege mehr an

Wenn also der moderne Hof von Konstantinopel, wenn der türkische Präsident die Diplomatie ignoriert, wenn er schimpft und einbestellt und drohend mit dem Finger wedelt, dann verzagen die altgedienten Diplomaten. Jede öffentliche Eskalation verlangt nach alter Schule nach einer Gegeneskalation. Wie aber beruhigt sich die Sache wieder? Sicher ist: Was Botschafter und Gesandte, Staatssekretäre und politische Direktoren in mühsamer Kleinarbeit aufbauen, wird mit einem Streich weggewischt. Kein Wunder, dass der Sprecher des deutschen Außenministeriums, Martin Schäfer, die Erregung zu lindern versucht, wenn er die Einbestellung des türkischen Botschafters zum Fall des inhaftierten Journalisten Deniz Yücel ein bisschen ins Alberne zieht: "Die Tonalitäten - ob einbestellt, zum Gespräch gebeten, zum Kaffee geladen oder Kaffee und Kuchen gereicht - sind letztlich gar nicht so wichtig."

Diplomaten zetteln heute keine Kriege mehr an, und am Ende bleibt es eine Sache für Feinschmecker, ob nur der Gesandte oder der Botschafter einbestellt oder zum Gespräch gebeten wurde, ob dieses Gespräch vom Abteilungsleiter, vom Staatssekretär oder gar vom Minister geführt wird, ob man sich dabei verständnisvoll zuraunt oder mit eisiger Miene gegenübersitzt.

Klappt es nicht mit dem Gespräch, dann bietet das Wiener Protokoll noch ein paar andere Eskalationsstufen: die Anweisung zur Abberufung oder - für die Gegenseite - die Rückrufung des Botschafters, entweder für einen symbolischen Zeitraum oder für unbestimmte Zeit. Die letzte Eskalationsstufe, die Schließung der Botschaft und der Abbruch der diplomatischen Beziehungen, wählen heute nur sehr wenige Staaten im Umgang miteinander. Als die Bundesrepublik nach dem Massaker von al-Hula den syrischen Botschafter des Landes verwies, sollte der Pfeil eigentlich Machthaber Baschar al-Assad treffen. Die Botschaft: Mit diesem Regime werden wir nicht mehr zusammenarbeiten. Die Geste hat den Machthaber wohl wenig beeindruckt, er musste einen Krieg gewinnen und überleben. Nach allem, was bekannt ist, erfreut er sich noch bester Gesundheit.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: