Süddeutsche Zeitung

Hilfsbereitschaft:Wenn Spenden schadet

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Vor Weihnachten werden viele Menschen großzügig. Doch trotz all der Milliarden kommen arme Länder oft nicht voran. Warum?

Von Tobias Zick

Es sind aufwühlende Zeiten im "Halfway House", einem Heim für Mütter und Kinder am Rand von Nairobi. Schwere Baumaschinen reißen die Erde des Nachbargrundstücks auf, planieren und pumpen Beton hinein. Das Gebäude des Waisenhauses senkt sich immer weiter ab, durchs Mauerwerk ziehen sich neue Risse. Irene Baumgartner schickt jeden Tag eine Beschwerde-E-Mail an die Bauherren, meist ohne Antwort.

Eines Tages aber kam dann doch der Großinvestor vorbei, Chris Kirubi, einer der reichsten kenianischen Geschäftsleute, das Magazin Forbes schätzt sein Vermögen auf mehr als 200 Millionen Euro. Sein Erfolg gründet nicht zuletzt darauf, dass er für Spitzenpolitiker deren Geld in lukrative Großprojekte investiert. Kirubi kam mit einer Flotte von Limousinen samt Leibwächtern und sagte: "Wir schaffen hier Arbeitsplätze." - "Wir doch auch", sagte Baumgartner.

Die 61-jährige Irene Baumgartner, gebürtige Oberbayerin, lebt seit 25 Jahren in Kenias Hauptstadt Nairobi. 1998 hat sie dieses Hilfsprojekt gegründet, jetzt droht ihr das große Geld der kenianischen Eliten endgültig über den Kopf zu wachsen. Das größte und luxuriöseste Einkaufszentrum Ostafrikas soll da jenseits des Zauns entstehen und laut Werbung "den Beginn eines völlig neuen Shopping- und Lifestyle-Erlebnisses markieren". Der Kinderarzt, der diese Woche da war, hat gesagt, solange die schweren Dieselmaschinen nebenan ihr Werk fortsetzten, solange werde sich der Husten, an dem viele der Kinder derzeit leiden, sicher nicht bessern. "Laut Gesetz hätten wir als Nachbarn vorab um Stellungnahme zu dem Bauprojekt ersucht werden müssen", sagt Baumgartner. "Aber uns hat niemand gefragt." Dass irgendjemand die Schäden am Gebäude ersetzt, darauf wagt sie gar nicht zu hoffen.

Ein Hilfsprojekt, in den Schatten gestellt vom großen Geschäft - ein derart anschauliches Sinnbild der Verhältnisse in Kenia drängt sich einem selten auf. "Ich sehe einige Dinge inzwischen ein bisschen anders als damals vor 25 Jahren", sagt Baumgartner. Wenn es heute etwa in einem deutschen Fernsehbeitrag heiße, Kenia sei eines der ärmsten Länder der Welt, dann ruft sie wütend beim Sender an, um ihre Sicht der Dinge klarzustellen: "Unsinn! Das hier ist inzwischen fast ein Schwellenland, eines der aufstrebenden Länder in Afrika. Aber auch eines der ungerechtesten. Und daran ist die ganze Entwicklungshilfe mitschuld."

Mit ihrer Kritik zielt Irene Baumgartner in dieselbe Richtung wie etwa die kamerunische Ökonomin Axelle Kabou, die nach Jahren als Entwicklungshilfe-Koordinatorin und Regierungsberaterin schon in den 1990er-Jahren ein polemisches Buch schrieb mit dem Titel "Weder arm noch ohnmächtig. Eine Streitschrift gegen schwarze Eliten und weiße Helfer". Oder ihre sambische Kollegin Dambisa Moyo, die Entwicklungshilfe aus dem Westen als "süßes Gift" für Afrika bezeichnet, das Menschen in Abhängigkeit halte, ihre Eigeninitiative lähme - und die Eliten aus ihrer Verantwortung für ihre Bürger entlasse. Der diesjährige Träger des Wirtschaftsnobelpreises, der Ökonom Angus Deaton, resümiert: Die vielen Milliarden, die Industrieländer in den vergangenen Jahrzehnten in die Entwicklungshilfe gesteckt haben, hätten wenig bewirkt. Ein Großteil davon versickere in korrupten Systemen.

Hilfe bei akuten Katastrophen sind unumstritten - anders sieht es bei Langzeitprojekten aus

Kaum irgendwo sonst auf der Welt tritt dies so augenfällig zutage wie im Südsudan. Der jüngste Staat der Welt, im Juli 2011 geschaffen mit massiver Geburtshilfe durch die Vereinten Nationen, wäre von Anfang an nicht lebensfähig gewesen, hätte nicht die internationale Gemeinschaft viele Milliarden an Aufbauhilfe hineingepumpt. Es dauerte nur zweieinhalb Jahre, bis Regierung und Armee entlang alter ethnischer Konfliktlinien zerfielen, und seither hetzen der Präsident und sein ehemaliger Vize ihre Milizen auf die Zivilisten der jeweils anderen Seite. Die Erlöse aus dem enormen Ölreichtum des Landes fließen vor allem in Waffenkäufe beider Seiten.

Die Vereinten Nationen und allerlei spendenfinanzierte Hilfswerke mühen sich, irgendwie ihre Lebensmittel dorthin zu bringen, wo die Menschen sich vor ihren Schlächtern verstecken. Sie müssen teilweise die lebensrettende Fracht aus Flugzeugen abwerfen, weil die Milizen entlang der Straßen auch vor Angriffen auf Helfer nicht zurückschrecken. Während also die Hilfe das Volk am Leben hält, können sich die Machthaber darauf konzentrieren, ihren Krieg ums Öl zu führen.

Ein weiteres Beispiel ist Goma im Osten Kongos, wo schon vor zwei Jahren ein Krieg tobte. Während allerlei Milizen, die wahlweise als Teil der staatlichen Armee oder unter Rebellenfähnchen Dörfer plündern und terrorisieren, strömen immer wieder Vertriebene in die Stadt, in der sie sich einigermaßen sicher wissen, geschützt von massiver Präsenz von UN-Blauhelmen, und mit dem Überlebensnötigen versorgt von den Hilfswerken dieser Erde. Bei einer Autofahrt durch die Landschaft aus erstarrter Lava und weißen Zeltplanen sagt eine Mitarbeiterin einer internationalen Organisation: "Ich denke mir manchmal, das Beste wäre es, wenn wir hier alle morgen abziehen würden. Dann gäbe es hier vielleicht ein, zwei Jahre lang noch mehr Leid und Elend, aber dann müssten sich die Politiker ernsthaft überlegen, wie sie Ausgleich und Stabilität schaffen."

Auch der Verwaltungsapparat vieler Organisationen wird immer wieder infrage gestellt. "Ständig irgendwelche Konferenzen, Meetings, Workshops", sagt ein ehemaliger Mitarbeiter einer Organisation, die in kenianischen Dörfern versucht, Infrastruktur aufzubauen. "Ich hatte nicht das Gefühl, dass unsere Arbeit den Menschen wirklich hilft. Aber es haben viele Leute die Chance bekommen, in klimatisierten Räumen zu sitzen und gut zu essen." Der Mann ist inzwischen frustriert aus der Hilfsbranche ausgestiegen.

Nothilfe stellt niemand infrage

Kritiker wie Dambisa Moyo und Angus Deaton sind sich weitgehend einig, dass es andererseits falsch wäre, nun radikal jegliche Hilfe einzustellen. Es ist Konsens, dass man das Thema differenziert angehen muss. Nothilfe, Lebensmittel etwa für die Opfer von Tsunamis oder Erdbeben, stellt kaum jemand grundsätzlich infrage. Doch wenn es um langfristige Hilfe geht, dann können die Auswirkungen sehr unterschiedlich sein.

Das Halfway House etwa, das Baumgartner gegründet hat, versucht, Müttern, die im Gefängnis waren, nach der Haft zu einem Start in ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben zu verhelfen: mit Berufsbildung, Beratung beim Aufbau eines kleinen Geschäfts, und mit der Pflicht, in engen Abständen die eigenen Fortschritte nachzuweisen. Eine Sozialarbeiterin, die für das Projekt arbeitet, berichtet, dass viele der Mütter schon während ihrer letzten Tage im Gefängnis das ablehnen - und verständnislos den Kopf schüttelten. "Die sagen: Was wollt ihr von mir? Ich gehe zurück in meinen Slum, da gibt es die verschiedensten Hilfsorganisationen, von denen werde ich schon versorgt."

Eine dieser Hilfsorganisationen ist Misereor. Man kenne solche Vorwürfe, sagt Dorothee Mack, bei Misereor zuständig für Evaluierung. "Natürlich wäre es falsch, bloß dauerhaft Essen unter den Armen verteilen zu wollen. Sinnvoll ist so etwas nur, wenn die Menschen zugleich Hilfe zur Selbständigkeit bekommen", sagt sie. Eigentlich ist man sich einig. Die Frage ist nur: werden die Menschen selbständig?

Irene Baumgartner ist nach 25 Jahren in Kenia überzeugt: Die "Mutter-Teresa-Haltung", mit der Entwicklungshilfe oft arbeite, diese Haltung habe eine Passivität befördert. Die Regierenden könnten sich darauf verlassen, dass die Gefahr sozialer Unruhen abgefedert werde durch die Arbeit der ausländischen Helfer. "Und sie haben gar kein Interesse daran, dass die riesigen Armensiedlungen hier in Nairobi verschwinden. Die sind nämlich der Garant dafür, dass ständig Millionen von außen ins Land fließen, ohne genaue Kontrolle und ohne Gegenleistungen", sagt sie.

Eigentlich wollte Baumgartner sich längst aus dem Halfway House und aus dem "Nest", einem dazugehörigen Waisenhaus, zurückgezogen haben. Sie hatte sich gewünscht, dass die Projekte einmal ohne Hilfe von außen laufen und sich selbst tragen. "Aber das war eine Illusion", sagt sie. "Wir hängen nach wie vor zu 80 Prozent von Spenden aus dem Westen ab. Und das finde ich eigentlich falsch."

Immer wieder hat sie versucht, wohlhabende Kenianer für die Finanzierung zu gewinnen. Sie hat den Staat gefragt, der doch eigentlich die Aufgabe hat, sich um das Nötigste für seine Bürger zu kümmern. Mit bescheidenen Resultaten: "Wir haben uns zum Beispiel um eine Mehrwertsteuerbefreiung für unseren Kleinbus bemüht. Aber die hätten wir nur gegen Schmiergeld bekommen." Baumgartner weiß um das Dilemma ihres Projekts. Durch die Spenden aus Europa, auf die es trotz aller Bemühungen angewiesen ist, trägt es auch sein Scherflein dazu bei, die Regierenden des Landes aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Doch ohne die Spenden würde es zusammenbrechen. Die Leidtragenden wären die Mütter und die Kinder.

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Quelle:
SZ vom 05.12.2015
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