Süddeutsche Zeitung

Hessen:"Ich muss davon ausgehen, dass ihn diese Sorgen erdrückt haben"

Ministerpräsident Bouffier rückt den Freitod seines Finanzministers Thomas Schäfer in Zusammenhang mit der Coronakrise.

Von Matthias Drobinski, Frankfurt

Fassungslosigkeit und ungläubiges Entsetzen - der Tod des 54-jährigen hessischen Finanzministers Thomas Schäfer (CDU) erschüttert Freunde, Weggefährten, politische Konkurrenten. Am Samstagvormittag gegen 10.20 Uhr wurde seine Leiche in der Nähe von Hochheim im Main-Taunus-Kreis gefunden. "Aufgrund der Gesamtumstände" sei "von einem Freitod von Herrn Dr. Schäfer auszugehen", heißt es in einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft Wiesbaden und des Polizeipräsidiums Westhessen. Mitten in der Corona-Krise hat sich Hessens Finanzminister das Leben genommen, und am Sonntag sagt ein erschütterter Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), dass das eine mit dem anderen zu tun haben könnte: "Er hat buchstäblich bis zuletzt Tag und Nacht daran gearbeitet, diese Krise finanziell und organisatorisch zu bewältigen. Wir müssen heute davon ausgehen, dass er sich große Sorgen machte - große Sorgen vor allem darum, ob es gelingen könne, die riesigen Erwartungen in der Bevölkerung, insbesondere bei finanziellen Hilfen, zu erfüllen. Ich muss davon ausgehen, dass ihn diese Sorgen erdrückt haben."

Thomas Schäfer galt als künftiger hessischer Ministerpräsident

Ausgerechnet er. Der 1,97-Meter-Hüne, der Handballtorwart, trainiert darauf, mit Körper und Gesicht angstfrei abzuwehren, was da auf ihn zukommt. Der Bodenständige, verbunden mit dem rauen Marburger Hinterland. Es hieß, nichts könne ihn erschüttern, den Geselligen, Humorbegabten. Als klar Konservativer pflegte er weit über seine Partei hinaus Freundschaften. Zum 50. Geburtstag kamen sein SPD-Kollege Norbert Walter-Borjans aus Nordrhein-Westfalen, die Kindergartenfreunde, die Kumpels aus der Zeit der Banklehre.

Thomas Schäfer schien vor dem Höhepunkt seiner Politikkarriere zu stehen, die begann, als er in Biedenkopf Schulsprecher wurde, weil die Linken sich um Südafrika und Nicaragua kümmerten, aber nicht um die Probleme vor Ort. Als Bankangestellter war er von der heimischen Sparkasse zur Commerzbank nach Frankfurt gewechselt, da gewann 1999 überraschend Roland Koch die Landtagswahl. Schäfer gab seinen schönen Posten auf und wurde Büroleiter beim neuen Justizminister Christean Wagner und dann Bürochef des Ministerpräsidenten Koch. Er war Staatssekretär erst im Justiz- und dann im Finanzministerium, wo er Hessens Mann für die Rettung des Autobauers Opel in Rüsselsheim wurde, ein Reisediplomat zwischen Wiesbaden und Washington. Als 2010 Roland Koch zurücktrat und Volker Bouffier ihm folgte, wurde Schäfer Finanzminister, betrieb hartnäckig den Schuldenabbau des Landes, entwickelte einen Rettungsschirm für klamme Kommunen. Nun, da die Ära des 68-jährigen Bouffier sich Richtung Ende neigte, galt Schäfer als kommender Ministerpräsident des Landes.

Wer, wenn nicht er? Auch jenseits der schwarz-grünen Koalition war Schäfer als Fachmann und Politiker respektiert, der durch Kompetenz und Gespür herausragte, pragmatisch und lösungsorientiert dachte. Das Wort vom Kronprinzen lehnte er ab - da sei er viel zu sehr Demokrat, sagte er - aber die Journalisten registrierten, dass er sich durchaus aufs Amt vorbereitete, abnahm, sich im Staatsmännischen übte. Als in der Corona-Krise nicht nur die Zahl der Infizierten, sondern auch die Herausforderung für die Exekutive exponentiell wuchs, wirkte er geradezu als Fels in der Brandung. Noch am Mittwoch stellte er die in Aussicht gestellten Hilfen der Landesregierung für die Wirtschaft vor, sprach, ein Silberstreif Humor in der Krise, von einem "Gesamtkunstwerk": Es wird schwierig, es wird mühsam, aber wir helfen.

Aber nicht selten sind es ja gerade die nach außen so Starken und Unerschütterlichen, die in Wahrheit zweifeln und hadern, die nicht aushalten, dass die Sicherheit verloren ist, die sie doch geben sollen, dass sie die Erwartungen nicht erfüllen können, die so viele Menschen in sie haben. Manchmal ist es dunkel im Innern der Humorvollen; man schaut in niemandes Herz hinein. Im Nachhinein hätte der Tweet aufmerksam machen können, den er vor vier Tagen verschickte. "Vielleicht etwas für Zeitgenossen, die das Laute, Martialische und den Leuten alles Versprechende nicht mehr so richtig hören können oder wollen: Wir können nicht zaubern, sondern nur das Menschenmögliche tun, um Schaden von unserem Land abzuwenden" schrieb er da. Und teilte den Link zu seiner letzten Haushaltsrede. Sie zeigt einen Finanzminister, der von einer "Jahrhundertaufgabe" spricht und davon, dass sie zu schaffen ist: Zuversicht für die anderen, zwölf Minuten und 48 Sekunden lang.

Thomas Schäfer hinterlässt eine Frau und zwei Kinder.

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SZ vom 30.03.2020
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