Süddeutsche Zeitung

Hertie und die Hitler-Diktatur:War da was?

Vermutlich allen Deutschen ist Hertie ein Begriff. Aber kaum einer weiß, wie in der Nazi-Zeit das Unternehmen und sein Name entstanden. Studierende der Hertie School dringen darauf, dies zu ändern - bisher vergeblich.

Von Thorsten Schmitz

Eine der größten gemeinnützigen Stiftungen in Deutschland, die Hertie-Stiftung, weigert sich, ihr geschichtliches Erbe öffentlich aufzuarbeiten - diesen Vorwurf jedenfalls machen nahezu 150 aktuelle und ehemalige Studierende der Hertie School in Berlin, die sich in der Initiative "Her.Tietz" zusammengeschlossen haben.

Es sei "bizarr", sagt Alexander Busold von der Initiative, dass die Stiftung, die unter anderem Projekte zur Demokratieförderung betreibt, "ihre eigene NS-Geschichte nicht aufarbeitet. Wie können die glaubwürdig sein? Das macht uns wütend." Die Hertie-Stiftung äußerte sich auf Anfrage "sehr verwundert darüber, dass dies behauptet wird".

An der Hertie School in Berlin, die von der Hertie-Stiftung finanziert wird, werden Menschen aus aller Welt zu Führungskräften für Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ausgebildet. Die Stiftung verfügt über ein Vermögen von einer Milliarde Euro.

Alexander Busold und Torben Klausa von der "Her.Tietz"-Initiative kritisieren, dass die Studierenden seit fast zwei Jahren versuchten, den Vorstand der Hertie-Stiftung zu "einem offenen Umgang und einer wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer Geschichte zu überzeugen, aber wir werden hingehalten und abgewimmelt".

Der Süddeutschen Zeitung liegen E-Mails der Hertie-Stiftung vor, die diese Behauptung stützen. Der Stiftungsvorsitzende Frank-Jürgen Weise, früher Chef der Bundesagentur für Arbeit, hatte in einem Brief mehr als 1000 aktuellen und ehemaligen Studierenden der Hertie School 2019 mitgeteilt, man habe sich im Vorstand mit den Vorwürfen der "Her-Tietz"-Initiative beschäftigt und komme "zu einer anderen Bewertung als Sie".

Die Warenhauskette der jüdischen Unternehmerfamilie Tietz wurde kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten "arisiert". Die Familie wurde aus dem Unternehmen gedrängt, indem die Nationalsozialisten zu einem Boykott des Warenhauses aufriefen und Druck ausübten auf Kreditgeber wie die Deutsche Bank.

Der nach der "Arisierung" eingesetzte Manager führte auch nach dem Krieg die Geschäfte

Der Namen des Unternehmens wurde zugunsten der Abkürzung "Hertie" getilgt. "Hertie" bedeutet die Zusammensetzung aus Hermann und Tietz. Hermann Tietz hatte seinem Neffen Oscar Tietz im Jahr 1882 Geld gegeben für die Gründung eines Textilgeschäfts, der Ursprungs des Konzerns.

Nach der "Arisierung" wurde ein neuer Geschäftsführer eingesetzt, Georg Karg, der Hertie auch nach dem Krieg expandierte. In den 70er-Jahren führte Karg das Unternehmen in die gemeinnützige Hertie-Stiftung über.

Auf der Internetseite der Hertie School finden sich zu dieser dunklen Geschichte keine Hinweise, werfen die Studierenden der Stiftung vor. Auf der deutschsprachigen Internetseite der Hertie-Stiftung steht lediglich ein schwer zugänglicher Text, den man nur findet, wenn man ganz nach unten scrollt. Auf der englischsprachigen Version der Seite fehlt der Text komplett.

Die Hertie-Stiftung räumte auf SZ-Anfrage ein, der englische Internetauftritt sei "sehr reduziert", man werde eine Übersetzung des Textes auf die englischsprachige Seite stellen. Einen Zeitpunkt nennt die Stiftung nicht.

Ohnehin war der Text nur auf Druck der "Her.Tietz"-Initiative auf die Internetseite gestellt worden. Mit dem Inhalt aber haben die Studierenden ein Problem. "Es entsteht dort der Eindruck, dass die Familie Tietz unerfolgreiche Geschäftsleute waren, was in unseren Augen die antisemitischen Repressionen klein spielt", sagt Torben Klausa.

Alexander Busold kritisiert zudem, dass in dem Text keine Quellenangaben für die Behauptungen genannt würden. Manche Angaben widersprächen zudem wissenschaftlichem Forschungsstand. Simone Ladwig-Winters etwa habe 1996 in ihrer Dissertation "Wertheim - ein Warenhausunternehmen und seine Eigentümer" geschrieben, die Familie Tietz sei durch antisemitische Repressionen aus dem Konzern rausgeworfen worden.

Die Mehrheit der meist englischsprachigen Studierenden, sagt Alexander Busold, wisse nicht über die braune Vergangenheit des Hertie-Konzerns Bescheid. Er berichtet von einer jüdischen Alumna aus Nordamerika, die an der Hertie School studiert hatte und "sehr überrascht gewesen ist, dass die Schule es im Jahr 2020 nicht für nötig hält, offen mit der eigenen Vergangenheit umzugehen".

Bis heute finden die Herkunft des Namens "Hertie School" und die "Arisierung" keine Erwähnung im Curriculum. Erst nach mehrjährigem Drängen der "Her.Tietz"-Initiative hängt seit Kurzem eine historische Info-Tafel in der Cafeteria der Hertie School in Berlin.

Als "höchst seltsam" bezeichnet es Alexander Busold, der sein Masterstudium an der Hertie School abgeschlossen und im Juli als Programmmanager bei einer Stiftung angefangen hat, dass die Hertie-Stiftung zwei wissenschaftliche Studien aus den Jahren 2000 und 2008 unter Verschluss halte.

"Warum werden diese beiden Studien nicht öffentlich zugänglich gemacht, und warum werden wir seit Jahren mit unseren Vorschlägen hingehalten?", fragen er und Torben Klausa im Namen von 150 Studierenden, Alumni und Mitgliedern von drei weiteren Institutionen, die von der Hertie-Stiftung gefördert werden.

Konfrontiert mit diesem Vorwurf erklärt die Hertie-Stiftung: "Da beide Studien nicht vollständig die Geschichte wiedergeben und einem wissenschaftlichen Anspruch nicht genügen, hat man von einer Veröffentlichung abgesehen."

Die zwei Vorstudien zur Geschichte des Warenhaus-Konzerns kurz vor und während der nationalsozialistischen Herrschaft hätten ergeben, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte des Hertie-Konzerns wegen der lückenhaften Quellenlage keine weitere Aufklärung bringen würde - dies hatte Stiftungschef Weise noch vor wenigen Monaten den Studierenden geschrieben.

Gemeinnützige Hertie-Stiftung

"Georg Karg selbst soll später auf die Frage, warum er ausgewählt worden sei, geantwortet haben: ,Ich war weit und breit der einzige, der vor Angriffen aus rassischen Motiven sicher war.'"

Dass die Vorstudien unter Verschluss gehalten werden, löst unter den Studierenden Misstrauen aus. Sollen unerwünschte Zwischenergebnisse nicht an die Öffentlichkeit kommen? Immerhin sitzt im Vorstand Sabine Gräfin von Norman, die Enkelin von Georg Karg, dem früheren Chef der Hertie-Warenhauskette.

Den Studierenden hatte Weise auch geschrieben, der Versuch einer weiteren Aufarbeitung der Vorgeschichte der Stiftung würde "keinen Sinn stiften". Schließlich seien alle Ansprüche der Familie Tietz nach dem Krieg geregelt worden, "zur beiderseitigen Zufriedenheit".

Nun sagt die Stiftung, eine Aufarbeitung sei "kurz vor der Beauftragung"

Die Hertie-Stiftung habe das Grabmal der Familie Tietz auf dem jüdischen Friedhof in Berlin saniert, dies zeige, dass die Stiftung sich durchaus des Unrechts bewusst sei, das der Familie widerfahren ist. Der SZ erklärte die Stiftung nun, eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Vorgeschichte des Vermögens der Stiftung sei vom Vorstand beschlossen worden und stehe "kurz vor der Beauftragung".

Über den bisherigen Umgang der Hertie-Stiftung mit ihrer Vergangenheit zeigt sich auch Nils Busch-Petersen verwundert, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg. Er hat Kontakt zur Enkelin von Oscar Tietz, die in New York lebt. Es sei "längst überfällig, dass die Stiftung an prominenter Stelle erklärt, dass hinter ihrem Namen eine Arisierung steht".

Der Regisseur Nico Hofmann, der im Kuratorium der Hertie-Stiftung sitzt, sagt, er unterstütze die Initiative der Studierenden. Es sei "essenziell und klug", die Geschichte von Hertie "transparent zu kommunizieren und zu erforschen. Diese Prozesse sind eine Bereicherung, das habe ich auch im Umgang mit der Ufa-Geschichte gelernt." Mit dem NS-Thema "muss man offensiv umgehen". Hofmann ist Chef der Filmproduktionsfirma Ufa.

Der frühere Berliner Kulturstaatssekretär André Schmitz, der ebenfalls im Kuratorium der Hertie-Stiftung sitzt, sagte, diese müsse "stolz sein auf die jungen Menschen, dass sie diese ehrenwerte und unterstützungswerte Initiative angeschoben haben". Es sei "längst Standard", die eigene NS-Geschichte offen aufzuarbeiten und transparent zu machen, wie es etwa das Außenministerium praktiziere.

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Quelle:
SZ vom 17.10.2020/odg
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