Süddeutsche Zeitung

Henry Kissingers neues Buch "Staatskunst":Die Außergewöhnlichen

Henry Kissinger erhebt fünf Männer und eine Frau aus dem 20. Jahrhundert in den Rang der höchsten Staatsführer. Man lernt dabei viel über das Selbstbild des 99-Jährigen, die aktuellen Weltkrisen - und kann bei der Auswahl zweier Persönlichkeiten nur den Kopf schütteln.

Von Stefan Kornelius

Henry Kissinger hat sicherlich nicht ganz so viele Bücher verfasst, wie über ihn selbst geschrieben wurden. Allerdings lässt der Diplomat, Stratege, Historiker, Politiker, Lobbyist und Präsenzmeister der Weltpolitik selbst im bemerkenswerten Alter von 99 Jahren nicht nach und füttert den Nachlassapparat mit einem weiteren wuchtigen Werk.

"Staatskunst" (Leadership im Original) reiht sich schon von der Titelwahl in die Monumentalwerke über China, Diplomatie, Weltordnung und Krise, die neben den autobiografischen Büchern die Kissinger-Legende begründen. Nachdem schon vor acht Jahren der Titel "Weltordnung" zum Vermächtnis des Mannes deklariert wurde, zögert man nun, erneut ein endgültig letztes Kissinger-Epos auszurufen - wer weiß denn, was Kissinger gerade noch umtreibt.

"Staatskunst" trägt den Untertitel "Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert", die freilich alle eine Art Übersetzungshilfe brauchen. Denn Kissinger erzählt die politischen Biografien von sechs Persönlichkeiten, die er als historische Figuren der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ausgemacht hat, und deren Wirken er als richtungsweisend erachtet. Diese Kurzbiografien leitet er ein mit einem ausführlichen Essay über Staatskunst und Führung, ehe er sich zum Ende noch einmal dem Typus der Führungsfigur widmet, garniert mit ein paar aktuellen Beobachtungen etwa zum Ukraine-Krieg.

Der Vorteil: die persönliche Bekanntschaft

Bleiben also die sechs Staatsleute, die von Kissinger in den Adelstand erhoben werden: Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher. Das ist eine illustre Kombination, für deren Auswahl Kissinger immer wieder Gründe liefert. Allerdings lässt sich auch nach 600 Seiten der Eindruck nicht verwischen, dass die Vorbilder reichlich zufällig zusammengekommen sind.

Nicht ganz unwesentlich bei der Auswahl war natürlich die Tatsache, dass Kissinger alle persönlich kannte und mehr oder weniger häufig zu Gesprächen getroffen hatte. Lediglich zum französischen Präsidenten de Gaulle bestand ein eher distanziertes Verhältnis, was Kissingers Bewunderung aber nicht schmälert.

Auswahlkriterium Nummer zwei ist natürlich Größe oder Bedeutung, die Kissinger-typische Kriterien erfüllen muss: Mut, Wille zur bedeutsamen Tat, Weitsicht, historische Verwurzelung, Tugendhaftigkeit, Charakter. Die ideale Mischung zwischen einem prophetischen, visionären Anführer und einem kühl abwägenden Sicherheitsdenker - das ergibt den Typus, dem Kissinger historisches Potenzial zubilligt.

Erstaunliche Schwerpunktsetzung

Dass die sechs auserwählten in vielen ihrer Charaktereigenschaften dem Autor selbst ähneln, dass er ihren innersten Antrieb zum Teil brillant zu deuten vermag - all das ist kein Zufall. Kissinger schreibt immer auch ein bisschen über sich selbst und den Charakter, den er selbst vorzuleben glaubt. Dass alle sechs autoritäre, gar autokratische Züge aufwiesen und besonders Nixon, Lee oder auch Thatcher in ihren Regierungszeiten hochumstritten waren und spalterisch wirkten, gehört wohl zum Merkmal des Außergewöhnlichen. "Sie erwarteten keinen Konsens und bemühten sich auch nicht darum", schreibt der Realist Kissinger, der weiß, wovon er spricht.

So entstanden also Portraits und Charakterminiaturen, die kein Biograf in dieser Autorität hätte verfassen können. Kissinger schreibt immer auch aus der satten Fülle seiner Lebenserfahrung, die dann doch sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert bereithält. Besonders die Kapitel über Adenauer, de Gaulle und Sadat geben Einblick in den Entscheidungskosmos von Staatsmännern, die wahrhaft historische Last auf sich genommen haben. Kissinger ist auch dank fleißiger Zuarbeiter nach wie vor Historiker und der wissenschaftlichen Genauigkeit verpflichtet.

Das Nixon-Kapitel hat er in der einen oder anderen Form schon zu Papier gebracht - in den eigenen Erinnerungen etwa. Aber nun gelingt noch einmal eine intime Charakterstudie des Außenpolitikers Nixon, dessen dunkle Seiten Kissinger allerdings nur oberflächlich beleuchtet. Der Absturz im Watergate- und Abhörskandal verkommt so zum zufälligen Schlusspunkt eines ansonsten grandiosen weltpolitischen Wurfs. Dass es Kissinger selbst war, der Nixon zu diesem außenpolitischen Parforceritt nach China, Nahost, Vietnam und Russland angetrieben hat, verbrämt der Autor in untypischer Demut. Warum ausgerechnet der charakterlose Nixon von allen US-Nachkriegspräsidenten die Adelung zum vorbildlichen Staatsmann gebührt, bleibt ein Rätsel.

Vom visuellen Zeitalter und von Putin

Nicht weniger rätselhaft die Heraushebung von Margaret Thatcher. Die verfügte zwar charakterlich über alle Eigenschaften einer unerbittlichen Führungsfigur, aber jenseits ihrer brachial-revolutionären Rosskur für den britischen Staat bleibt ein Kanonenboot-Ausflug auf die Falkland-Inseln in Erinnerung und eine grandiose Fehleinschätzung der Dynamik der deutschen Vereinigung.

Kissinger endet ein wenig disparat. Er führt zwei Beobachtungen ein, die ihn offenbar mit Blick auf die Zukunft und die Stabilität des Planeten umtreiben: den Übergang vom schriftlichen zum visuellen Zeitalter und die seiner Meinung nach nachlassende Fähigkeit, sich in Probleme zu vertiefen und mit historischen Bewusstsein zu entscheiden; und die Zerbrechlichkeit des Dreiecksverhältnisses China-Russland-USA.

Ja, Russland zwingt Kissinger zu einem fast schon tagesaktuellen Exkurs, weil er in seinem Glauben an die Fähigkeit zur Balancepolitik mit Russland erschüttert ist und offenbar wittert, dass keiner da draußen das Zeug zur Staatskunst hat, um das von Wladimir Putin angerichtete Chaos zu richten. Die Seiten davor lieferten jede Menge Ideen - allein es fehlen der Staatsmann oder die Staatsfrau.

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