Helmut Schmidt im Interview:"Nicht alle Probleme gehen uns etwas an"

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Helmut Schmidt (Foto: N/A)

Altbundeskanzler Helmut Schmidt über Sinn und Zweck der Bundeswehr und der Nato - und die wichtigste Aufgabe deutscher Sicherheitspolitik.

Stefan Kornelius

Helmut Schmidt, jetzt 91 Jahre alt, wird eine ungebrochene Aufmerksamkeit zuteil. Er scheint das Bedürfnis der Deutschen nach einem elder statesman zu erfüllen, der die Rolle des weisen und lebenserfahrenen Ratgebers für eine ganze Nation übernimmt.

Der Altbundeskanzler lebt und arbeitet in Hamburg, die Tage verbringt er in seinem Reihenendhaus und im Büro in der Redaktion der Zeit, deren Herausgeber er ist. Dort empfängt er bevorzugt seine Gäste, die aus aller Welt anreisen: Poltiker, Botschafter, Journalisten. Selbst zu reisen fällt ihm inzwischen schwer. Schmidt meidet die Mühsal, aber er vermisst auch die Abwechslung. Besucher müssen sich zuerst die Klage anhören, dass es kein Vergnügen sei, wenn der Körper altere, der Geist aber so rege sei wie immer.

In der Tat: Schmidt formuliert druckreif, er urteilt scharf, manchmal auch unbarmherzig. Hat er ein Thema nicht ausreichend durchdrungen, fällt er in grüblerisches Schweigen. Danach fallen die Sätze wieder wie letztinstanzliche Urteile. Noch immer betreibt er seine "Freitagsgesellschaft", den Kreis aus mehr als einem Dutzend guter Freunde aus allen Disziplinen, die sich in seinem Haus im Wintersemester zu "Vorlesungen" versammeln.

Schmidt beherrscht die Gabe, jedem Wort eine höhere Weihe zu geben. Die Zigarette wird dabei rituell eingesetzt. Sie ist wie eine Denkhilfe. Schmidt raucht wenig, dennoch verglühen etwa 20 Zigaretten im Verlauf von zwei Stunden. Die Asche wird abgeschüttelt und verschwindet in einem Verlies unter einer rotierenden Metallplatte.

Stefan Kornelius, Ressortleiter der Außenpolitik-Redaktion der Süddeutschen Zeitung, traf Schmidt zum großen SZ-Interview. Auszüge davon lesen Sie hier.

Vor dem Hintergrund, dass in Deutschland Sinn und Zweck der Bundeswehr angesichts des Afghanistan-Einsatzes hinterfragt werden, hält der Altbundeskanzler die Frage, ob man die Bundeswehr in ihrer bestehenden Form überhaupt braucht, für berechtigt.

Schmidt: "Die Frage kann man durchaus ernsthaft aufwerfen. Aber ich würde sie bejahen, denn man weiß nie, was sich in Europa an unerfreulichen Dummheiten entwickelt. Wir brauchen allerdings jedenfalls keine 500.000-Mann-Armee. Und man kann im Ernst die Frage stellen, ob wir eine Wehrpflicht brauchen, zumal sie nur sehr selektiv ausgeschöpft wird."

Dass von al-Qaida eine ernsthafte Bedrohung für Deutschland ausgeht, glaubt auch Schmidt. Allerdings hält er das Grundgesetz für diese neue Art der Bedrohung nicht vollends gerüstet.

Schmidt: "In der gegenwärtigen Situation, da man sich verteidigt gegenüber einem mächtigen, gefährlichen Gegner, genannt al-Qaida, in dieser Situation gibt es an der Notwendigkeit einer Verteidigung kaum Zweifel. Aber das alles passt mit dem Text des Grundgesetzes nicht wirklich zusammen. Das gilt übrigens auch für die Vorschriften des Grundgesetzes über den Oberbefehl. Eine Frage wäre, ob man das Grundgesetz an die veränderte Lage anpassen soll. Ich wäre da sehr zögerlich, weil ich skeptisch bin gegenüber der dauernden Bastelei am Grundgesetz. Die Deutschen haben in 60 Jahren das Grundgesetz genauso oft geändert wie die Amerikaner in 250 Jahren. Außerdem neigt das Oberste Gericht in Deutschland seinerseits dazu, über den Zaun zu fressen und das Grundgesetz zu strapazieren für alle möglichen Dinge, die nicht unbedingt notwendig sind."

Das Unbehagen in der Bevölkerung kann Schmidt nachvollziehen. Angesichts des Anwachsens der nuklearen Mächte ist es für den Altbundeskanzler nur zu verständlich.

Schmidt: "Das Unbehagen großer Teile der öffentlichen Meinung in Deutschland gegenüber dem Militärischen ist zum erheblichen Teil gerechtfertigt. Es rührt auch daher, dass es nicht nur um Probleme geht wie Afghanistan, Somalia, Kosovo oder Sudan. Vielmehr geht es eben auch um das in Wirklichkeit sehr bedrohliche Problem der Überrüstung der ganzen Welt - nuklear und konventionell. Es gibt heute mehr als 20.000 nukleare Sprengköpfe auf der Welt, die innerhalb von ganz kurzer Zeit abschießbar sind. Gleichzeitig haben die fünf ursprünglichen Atomwaffen-Staaten den Nichtverbreitungsvertrag im Artikel 6 nicht erfüllt. Wir beobachten eine Ausdehnung der Zahl der nuklearen Mächte. Jetzt sind es neun, und es ist vorherzusehen, dass diese Entwicklung weitergeht. Nicht unbedingt nur mit Iran."

Dass dieses Unbehagen, das in der Gesellschaft herrscht, aber von der deutschen Politik beseitigt werden kann, daran hat Schmidt starke Zweifel.

Schmidt: "Diese Unlustgefühle der Deutschen sind im Augenblick ein bisschen einseitig konzentriert auf Afghanistan. Sie haben die Welt als Ganzes nicht im Blick. Am ehesten lassen sie sich noch Angst machen vor China, was gegenwärtig am wenigsten gerechtfertigt ist. Eigentlich wäre eine in aller Gelassenheit, aber mit Sorgfalt zu führende Debatte über die deutschen Interessen wünschenswert. Stattdessen ist aber die politische Debatte in Deutschland lange Zeit nicht so oberflächlich gewesen. Sie beschäftigt sich mehr mit Oberflächlichkeiten der deutschen Innenpolitik und mit phantastischen außenpolitischen Gedanken. Zum Beispiel, ob man nicht die Russen einladen sollte, dem Nordatlantischen Bündnis beizutreten. Das wäre eine wunderbare Provokation gegenüber chinesischen strategischen Planern. Auch dies ist ein Kennzeichen der Oberflächlichkeit."

Auch für das Verteidigungsbündnis, in dem Deutschland während des Kalten Krieges Sicherheit fand, das aber nun mit den neuen Konflikten überfordert scheint, hat Schmidt harsche Kritik übrig. Die Nato, so der 91-Jährige, bestehe aus Tausenden Generalstabsoffizieren und Diplomaten, die am laufenden Bande Planspiele machen, Konferenzen veranstalten, Schlagworte in die Welt setzen.

Schmidt: "Die Nato ist völlig ins Kraut geschossen. Sie hat einen riesenhaften Umfang angenommen, und sie folgt ihren eigenen, inneren Gesetzmäßigkeiten. Jede Bürokratie neigt dazu, sich zu vergrößern. Die Nato-Bürokratie ist heute viel größer als zu Zeiten des Kalten Krieges. Während sie im Kalten Krieg damit beschäftigt war, den Verteidigungsfall gegenüber der Sowjetunion zu planen, beschäftigt sie sich heute mit der Niederwerfung der Taliban in Afghanistan."

Die Probleme, gerade im Umgang mit der islamischen Welt, seien zu komplex, als dass sie ein militärisches Bündnis lösen könnte, sagt Schmidt - und urteilt hart über humanitäre Interventionen.

Schmidt: "Das Spannungsverhältnis mit der islamischen Welt schafft Sicherheitsprobleme, die kaum und jedenfalls nicht ausschließlich mit militärischen Mitteln zu behandeln sind. Wir sollten sie sehen, aber wir sollten uns nicht einbilden, dass alle Probleme irgendwo auf der Welt unsere Aufgaben sind. Wir haben uns, ohne dass die Öffentlichkeit mitgegangen ist, an allzu vielen humanitären Interventionen beteiligt. Übrigens auch an einigen völkerrechtswidrigen, wie Kosovo und Bosnien-Herzegowina. Ich neige dazu, jeden Einzelfall unter die Lupe zu nehmen und in vielen Fällen nein zu sagen. Wenn andere Leute sich gegenseitig umbringen wollen, dann ist das nicht notwendigerweise unsere Sache, das zu verhindern. Es ist auch nicht unsere Sache, dafür das Leben der eigenen Soldaten aufs Spiel zu setzen."

Trotz aller Gefahren durch Terrorismus und globale Konflikte. Wichtigste Aufgabe für Deutschland bleibt nach Ansicht von Schmidt, ein gutes Verhältnis zu seinen europäischen Nachbarn zu haben.

Schmidt: "Die Deutschen haben - mit der Ausnahme der Schweiz - mit all ihren Nachbarn Krieg geführt, nicht bloß einmal. Wenn die Deutschen schwach waren, weil es keinen deutschen Staat gab, dann sind die anderen von außen gekommen, haben zentripetal ihre Soldaten ins Zentrum Europas geschickt und haben hier gehaust wie die Botokuden. Wenn die Deutschen stark waren oder sich stark fühlten, dann haben sie zentrifugal nach draußen gestoßen, zum Beispiel zweimal nach Russland, dreimal nach Frankreich, noch öfter nach Polen! Die wichtigste Aufgabe der deutschen Sicherheitspolitik ist es, ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn herzustellen. Übrigens auch unter dem Aspekt von Gefahren, die von weiter außen kommen könnten. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir allein solcher Gefahren Herr werden können. Anders gesagt: Der Kern des deutschen strategischen Interesse ist die Europäische Union."

Das gesamte Interview mit Helmut Schmidt lesen Sie am Freitag in der Süddeutschen Zeitung.

© SZ vom 19.03.2010/gba - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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