Helmut Kohl wird 80:Meine Jahre mit Birne

Wer in der Regierungszeit Helmut Kohls aufwuchs, der hatte viele Ängste und ein klares Feindbild: den Kanzler mit der Strickjacke .

Christian Mayer

Wir sind mit ihm aufgewachsen, sein Bild und seine Stimme waren allgegenwärtig. Doch im Grunde wussten wir wenig über den Mann, der uns 16 Jahre lang begleitete.

Sein Vorgänger hatte im Vergleich zu ihm ein klares Profil: Helmut Schmidt erschien streng und ernsthaft, unnachgiebig und abweisend, er konnte reden. Dieser Schmidt, der jeden Abend in den Fernsehnachrichten auftauchte, brachte Eigenschaften mit, die einem Zwölfjährigen, der seine Nase gerne in dicke Geschichtsbücher steckte, absolut einleuchteten. Er war kantig, klug, selbstsicher bis zur Arroganz und so entrückt, wie ein Herrscher sein muss.

Der Nachfolger im Kanzleramt war zwar auf den ersten Blick nicht weniger entrückt, er wirkte aber weniger beherrscht und selbstsicher, das sah jedes Kind. Und war es nicht schon ein Makel, dass der Neue sich durch ein "konstruktives Misstrauensvotum" quasi an die Macht geputscht hatte?

Für einen Schüler des Jahrgangs 1969, der zu Beginn der Kohl-Jahre gerade anfing, seine Heimatzeitung, den Südkurier, zu lesen, waren die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie schwer zu begreifen. Genauso wie die "geistig-moralischen Wende", die das Land offenbar nötig hatte. Was wollte dieser Kohl eigentlich? Ging es Deutschland so schlecht?

Man fing bald an, über den Mann aus der pfälzischen Provinz zu lachen. Am Heinrich-Suso-Gymnasium in Konstanz kursierten selbstgezeichnete Birne-Karikaturen und gesammelte Nonsens-Zitate, vorzugsweise aus der Titanic.

Richtigen Hass zog der Oggersheimer aber nicht auf sich. Dazu bot er zu wenig persönliche Angriffsfläche, anders als sein scharfzüngiger Dauerkonkurrent von der CSU. Eine "Stoppt-Strauß"-Plakette war für linke Mitschüler im Wahlkampf 1980 noch ein notwendiger Gesinnungsnachweis gewesen.

Bei Kohl reichte ein dummer Spruch, eine gelungene Parodie, dann waren wir fertig mit ihm. Heiner Geißlers unglückliche Formulierung nach einer Anhörung im Spenden-Untersuchungsausschuss, sein Parteichef habe "möglicherweise einen Blackout" gehabt, wurde ein beliebtes Bonmot, das auch bei den Lehrern die Runde machte.

Die wenigen, die vor dem Mauerfall 1989 ihre Sympathie für Kohl bekundeten, hatten es schwer, weil es in einer Universitätsstadt deutlich mutiger war, für die Junge Union einzutreten als für die Grünen, die damals als Strubbel-Visionäre im Selbstgestrickten über alle möglichen Gefahren für Leib und Leben aufklärten.

Gelegentlich wird behauptet, die "Generation Kohl", also jene westdeutschen Jugendlichen, die unter dem ewigen Kanzler ihre prägendsten Erlebnisse hatten, sei im Grunde unpolitisch. Kohl habe lauter verwöhnte Wohlstandskinder hervorgebracht.

Das ist Unsinn, zumal die angeblich monolithische Ära in zwei Teile zerfällt: In die Jahre des relativen Wohlstands bis 1989 und in die Nach-Wende-Zeit bis 1998, in der sich nicht nur für ostdeutsche Jugendliche neue Perspektiven und Unsicherheiten ergaben. Vor der Wende bestand die Welt für unseren Jahrgang fast nur aus Innenpolitik, da konnte sich Kohl noch so oft mit seinem französischen Duzfreund Francois Mitterrand treffen; den überzeugten Europäer nahmen wir nicht wahr.

Stattdessen diskutierten wir über die Parteispendenaffäre, die Stationierung amerikanischer Pershing-Raketen in Deutschland, das Waldsterben, das die Bundesrepublik in eine Steppenlandschaft verwandeln würde. Birne würde auch das überleben, so viel war klar.

Dies ist wohl der größte Unterschied zur total vernetzten Facebook-Generation: Wir glaubten damals in einer Mischung aus Arroganz und Ignoranz, dass deutsche Politiker die Probleme schon lösen könnten, wenn sie nur wollten. Ein paar Oberschlaue hatten auch die Lösung parat: Raus aus der Nato, dann ist der Frieden gesichert! Heute denken Jugendliche viel stärker in globalen Zusammenhängen, egal ob es um den Klimawandel, die weltweite Armut, terroristische Bedrohungen, Kriegseinsätze der Bundeswehr (unter Kohl undenkbar!) oder um die Arbeitslosigkeit geht.

Die Kohl-Jahre haben uns geprägt, der Kanzler weniger. Wir waren allerdings überrascht, wie viel robusten Charme und Überzeugungskraft er entfalten konnte. Seit der Wiedervereinigung war der Kanzler plötzlich keine Witzfigur mehr, sondern eine historische Gegebenheit, ein Monument mit Strickjacke, gegen das man anrennen konnte - vergeblich.

Man hatte nie das Gefühl, dass Kohl Anteil daran nahm, was junge Menschen dachten. Bei Werksbesichtigungen oder Wahlkampftouren ließ er sie gerne links liegen und schwadronierte lieber über seine eigene entbehrungsreiche Jugend. Für den Komplex Jugendlichkeit hatte er ja den Jungunternehmer Lars Windhorst, einen 19-jährigen Emporkömmling mit JU-Stempel und zweifelhaften Geschäftsmethoden, sowie eine Familienministerin namens Claudia Nolte, die eine kuriose Fußnote der späten Kohl-Ära geblieben ist.

Das Ende dieser Kanzlerschaft war für viele Jungwähler eine große Erleichterung; fast hätte man nicht mehr geglaubt, dass ein demokratischer Wechsel möglich sei. Was uns damals noch nicht klar war: So gemütlich und übersichtlich, wie wir es uns mit all unseren Vorurteilen unter Helmut Kohl hatten, wurde es später nie wieder.

Christian Mayer, 40, ist stellvertretender Ressortleiter "Panorama" der SZ.

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