Süddeutsche Zeitung

Helmut Kohl:Ein großer Kanzler

Wie kein anderer hat Kohl polarisiert. Aber er hat sich bedeutende Verdienste erworben um die Einheit Deutschlands - und um die Zukunft Europas.

Kommentar von Kurt Kister

Konrad Adenauer war der erste, Helmut Kohl der letzte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Nein, formal stimmt das nicht. Die Bundesrepublik existiert schließlich bis heute, sie wird regiert von Angela Merkel. Aber jene Bundesrepublik, die 1949 aus den drei Besatzungszonen der Westmächte entstand und die, vor allem von der Regierung Adenauer, auch als Gegenmodell zur DDR geformt wurde, die gibt es nicht mehr. Diese BRD war Helmut Kohls Deutschland. Dass unter seiner Regierung aus BRD und DDR das Deutschland entstand, in dem wir heute leben, war sein größtes Verdienst. Er ist, vorangetrieben vom Freiheitswillen der Menschen in Mittelosteuropa, zum Kanzler der Einheit geworden. Auch wenn er in diesem Prozess vielleicht nur in zweiter Linie ein Visionär war und in erster Linie ein instinktsicherer Manager, hat Kohl doch Geschichte gemacht, deutsche Geschichte, sogar etwas Weltgeschichte.

Aber Kohl ist nicht nur die politische Symbolfigur für die deutsche Einigung, die keine Wiedervereinigung war. Es gibt eine Trias der großen Bundeskanzler: Adenauer, Brandt, Kohl. Konrad Adenauer, der Mann aus dem 19. Jahrhundert, steht für Aufbau und Westintegration; der Sozialdemokrat, Emigrant und Widerständler Willy Brandt für gesellschaftliche Liberalität und außenpolitische Versöhnung; Kohl, das gebrannte Kriegskind, hat Deutschland nach Europa geführt und dort verankert.

Es war der Traum der Generation Kohl, die Grenzen in dem blutgetränkten alten Kontinent niederzureißen. Der Traum entstand nicht nur aus dem Trauma des Zweiten Weltkriegs, sondern auch, weil sich Europa über Jahrhunderte hinweg selbst zerfleischt hatte. Gerade Kohls engere Heimat, die Pfalz, gehörte wie Flandern oder das Artois zu den immer wieder vom Krieg verwüsteten Regionen. Dem studierten und gefühlsmäßigen Historiker Helmut Kohl war auch deswegen das Verhältnis zu Frankreich so wichtig. Als Kanzler jedenfalls hat Helmut Kohl erheblich zur Verwirklichung des Traums vom grenzenlosen, friedlichen Europa beigetragen.

Kohl hat Deutschland nach Europa geführt und dort verankert

Helmut Kohl war nicht nur der letzte westdeutsche Kanzler, sondern er hat auch so polarisiert wie kaum ein anderer Kanzler. Wer alt genug ist, erinnert sich daran, wie heftig der Meinungskampf auch um die Person Kohl tobte: der angeblich dumme Provinzler aus Oggersheim, die Birne. In den Achtzigerjahren gehörte es zum bildungsbürgerlichen Chic nicht nur der irgendwie Linken, Kohl doof zu finden. Ungeachtet dieser Attitüde blieb die westdeutsche Linke, soweit sie in SPD und Grünen ihren parteipolitischen Niederschlag fand, im Bund zwischen 1983 und 1998 macht- und erfolglos.

Gerhard Schröder, ein interessanter, aber kein großer Kanzler, obsiegte gegen Kohl nicht aus eigener Kraft, sondern weil das Land des zunehmend selbstherrlichen Ewigkeitskanzlers überdrüssig wurde. Am Schluss seiner Kanzlerschaft scheiterte Kohl mehr an seiner eigenen wurstigen Hybris, die er in den dann doch zu langen Jahren der Macht entwickelt hatte. Fast zwei Jahrzehnte lang regierte Helmut Kohl in Deutschland. Eine Generation wuchs auf, die keinen anderen Kanzler kannte als ihn.

Noch länger war Kohl Parteichef der CDU. Er wurde es in einer Zeit, in der sich der rechte Flügel um Alfred Dregger scharte, und ein "linker" Flügel kaum existierte, auch wenn spätere Kohl-Renegaten wie Heiner Geißler oder Norbert Blüm das auf ihre alten Tage heute anders sehen. Die Schwesterpartei CSU war, zumindest zu Lebzeiten von Franz Josef Strauß, überwiegend eine nationalkonservative Partei mit Wurzeln in einem nun wirklich dumpfen Regionalismus. Strauß, Jahrgang 1915, hat eine Modernisierung seiner Partei lange behindert. Kohl, Jahrgang 1930, stand der wenn auch manchmal zufälligen Erneuerung der CDU weniger im Weg.

Merkel ist eine würdige Erbin Kohls

Es mag seltsam klingen, aber der pragmatische Machtpolitiker Kohl legte, je länger seine Kanzlerschaft dauerte, immer weniger Wert auf den konservativen Markenkern der CDU. In diesem Sinne begann er, ohne dass er es geplant hätte, was Merkel später nahezu vollendete, ohne dass sie es so geplant hätte. Die Partei war für Kohl ein Vehikel, und die Synergieeffekte, die der Vorsitzende aus der Partei ziehen wollte, zog die Partei auch aus ihm: Helmut Kohl blieb mit der CDU an der Macht, die CDU blieb mit Helmut Kohl an der Macht.

Angela Merkel ist gerade in dieser Hinsicht eine würdige Erbin Kohls.

Merkel hat zu ihrer Partei, in der sie unter Kohl aufstieg, wie zu fast allem anderen auch heute noch ein nüchternes Verhältnis. Für Kohl dagegen war die CDU Familie, er war ihr Patriarch. Sie war sein Leben, letztlich mehr, als seine wirkliche Familie dies war. Unter mächtigen Männern ist diese Haltung nicht unüblich.

Sein patriarchalisches Verhältnis zu seiner Partei erklärt zum Teil auch seinen mehr als nonchalanten Umgang mit dem Gesetz in der Parteispendenaffäre. Der Patriarch tut der Familie Gutes und wenn er denkt, das Gesetz schadet diesem Guten, dann sei's drum. Kohl hat nie begriffen, wie sehr dieses Verhalten seinem Ruf und wohl auch dem Ruf "der" Politik geschadet hat. Er hat auch nicht verstanden, dass Angela Merkel ihn deswegen vom Thron des Ehrenvorsitzenden gestoßen hat.

Diese Affäre aber wird im Laufe der Zeit verblassen. Was bleiben wird, ist der Bundeskanzler Helmut Kohl, der einige Male im richtigen Moment das Richtige getan hat. Nicht alles war gut, aber manches war so gut, dass es historische Bedeutung gewann. Nein, die Einheit ist Helmut Kohl nicht in den Schoß gefallen, und auch die europäische Einigung hat sich nicht einfach so ereignet. Zu Europa hatte Kohl tatsächlich zuerst eine Vision, und dann entwickelte seine Regierung eine Strategie. Die ging nicht immer auf, aber letztlich führte auch sie zu diesem schwierigen Europa, das trotz Flüchtlingskrise, Euro-Ungewissheiten und regionaler Ungleichheit das beste Europa ist, das es je gab.

Die Einheit verlief weniger geplant. Aber auch diesen Prozess hat Helmut Kohl mitgestaltet, so gut, wie das zu dieser Zeit ein deutscher Bundeskanzler nur konnte. Dafür verdient er Respekt und Dank. Er war ein großer Kanzler.

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SZ vom 17.06.2017/mane
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