Helmut Kohl:Der Hinkelstein der Wiedervereinigung

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Helmut Kohl und seine Frau Hannelore (hier bei einem Besuch am 3.10.1990 im Berliner Reichstagsgebäude): "Obelix" und "die nette Waschmittelwerbungstante". (Foto: dpa)

Unsere Autorin politisierte sich in der Zeit zwischen 1989 und 1990. Untrennbar damit verbunden: die Person Helmut Kohl.

Von Dorothea Grass

Kurz vor der Wiedervereinigung war ich 13 Jahre alt, ein Teenie im Westen Deutschlands. Ein Jahr zuvor, als die Mauer fiel, war ich noch das Kind eines Vaterlandsverräters im Osten, aus einer Familie mit Ausreiseantrag.

Ich habe beobachtet, dass beide Ereignisse von einer jüngeren Generation heute manchmal miteinander verwechselt werden: Mauerfall und Wiedervereinigung. Das erste markiert die Zäsur, das zweite Ereignis die Konsequenz. Zwischen November 1989 und Oktober 1990 passierte in der deutschen Geschichte allerdings so viel wie in vielen darauffolgenden Jahren zusammengenommen nicht.

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Stoph, Honecker, Mielke - leblose Männer in grauen Fräcken

Es war Helmut Kohls glanzvollstes Jahr. Für mich war es das Jahr, in dem ich, das Ostkind, in den Westen kam. Das Jahr, in dem politische Entscheidungen unmittelbar auf mein Leben einen Einfluss haben sollten. Es war das Jahr, in dem ich mich zum ersten Mal für Politik interessierte. Ausgelöst hatte das Helmut Kohl.

Die Politiker, die ich bislang aus der DDR kannte, waren Leute, die irgendwie da waren, nie aber jemand gewählt haben wollte. Willi Stoph, Erich Honecker, Erich Mielke. Die in Spanplattenfurnier gerahmten Fotos der alten, leblosen Männer in grauen Fräcken hingen an den Wänden in unserem Schulgebäude, in Polikliniken, Sparkassengeschäftsstellen und Hallenbädern.

In der BRD schien das plötzlich anders zu sein. Die Politiker kamen irgendwie bunter rüber, freundlicher. Da war der sächselnde Genscher im gelben Pullunder, Heinz Riesenhuber, der sich mit seiner Fliege auf dem Röhrenbildschirm unseres Schwarzweiß-Fernsehers einbrannte - und Helmut Kohl.

Ein Mann wie ein Hinkelstein, im Gedächtnis der Zwölfjährigen verankert in einer Außenaufnahme, im schwarzen Mantel, Schneetropfen auf dem dunklen Stoff. Es war der Moment, als dieser Mann als Erster das Wort von der Wiedervereinigung in den Mund nahm.

Wenige Jahre später, als Zwölfjährige hätte ich es nie für möglich gehalten, sollte das Monument fallen. Bei öffentlichen Auftritten wurde Kohl mit rohen Eiern beworfen und beschimpft. Später fräste sich das Bild des Mannes, der nicht gehen und nie Fehler gemacht haben wollte, in das öffentliche Gedächtnis.

Jedoch: Das Bild vom Mann der Tat und Kanzler der Einheit wird über seinen Tod hinaus andauern. Vor allem im Ausland wird sich das Bild halten, schließlich haben es innenpolitische Querelen oft schwer, sich über Landesgrenzen hinaus in die Köpfe zu brennen.

Deswegen zurück zum naiven Bild der zwölfjährigen Vaterlandsverrätertochter, die keine Ahnung von Westpolitik hatte, nur die Nase voll von der Ostzone. Kohl war für mich eine imposante Erscheinung. Da waren seine Saumagen-Vorliebe, der lispelnde Pfälzer Duktus, die viereckige Alurahmenbrille (die DDR war ja Hornbrillenträgerland) sowie die medialen Überspitzungen wie zum Beispiel die Puppe mit den dicken Bäckchen aus "Hallo Deutschland". Für mich zeugte das von Lebendigkeit.

Dieser Politiker hatte offenbar auch ein privates Wesen, mit Vorlieben und karikaturesken Eigenheiten. Dieses Konzept kannte ich vorher nicht. Hatte man Willi Stoph je blinzeln sehen? Oder Honecker mit kräftiger, dunkler Stimme sprechen hören? - Nein! Es hab für mich nur eine Schlussfolgerung: Der Typ scheint menschlich zu sein. Uns, den Ostmenschen, ist er wahrscheinlich sogar wohlgesonnen.

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Und dann erst die Frau Hannelore! Wer hätte damals etwas von ihrem Schicksal ahnen können? Davon, dass sie unter dem riesigen Schatten ihres Mannes ein Leben lang gelitten hatte? 1989 sah Hannelore Kohl für mich aus wie die nette Waschmittelwerbungstante aus dem Westfernsehen. Strahlendes Lächeln, perfekter Kleidersitz, wie aus dem Ei gepellt. So wie sie aussah, hätte sie auch in der Schwarzwaldklinik mitspielen können.

Margot Honecker, die Ehefrau des DDR-Staatsratsvorsitzenden und Volksbildungsministerin fiel dagegen steil ab. Im Volksmund war sie die "Miss-Bildung" oder der "Lila Drache", die mit den blau-lila gefärbten Haaren und den verkniffenen Mundwinkeln. Die zugepressten Münder, das war eindeutig ein Charakteristikum des DDR-Politbüros, der ZK-Betonköpfe in ihren grauen Anzügen.

Die, die in meiner Kinderwahrnehmung niemals lachten, nie ein lockeres Wort zustande brachten. Sie waren unnahbare Ehrfurchtspersonen. Wenn uns damals irgendein Westkind zugerufen hätte "Macht euch mal locker, ey!", hätten wir wohl nach außen geguckt wie die Eichhörnchen, innerlich geschimpft "Das heißt: 'Rührt Euch!'" und weiter versucht, uns unauffällig und pioniertugendhaft zu verhalten.

Nicht, dass Kohl eine lockere Erscheinung gewesen war. Aber er verkörperte die Möglichkeit, Anschluss an ein Westleben zu bekommen. Seine eigene Physis, die ihm in Westdeutschland negativ hinterherhing, für die Zwölfjährige in mir war sie sprechend. Ein Mann wie Obelix - den haut nichts um und wenn er Einheit sagt, dann schaut er, dass er das hinbekommt. Zur Not werden ein paar Römer aus ihren Sandalen gehauen.

Der Moment als ich mein Pionierhalstuch verbrannte, hinterließ ein gutes Gefühl. Sprengt die Ketten!

Die Römer waren in dem Fall die Sozialisten, mit denen ich schon aufgrund ihres Namens nichts mehr anfangen konnte. Die Utopie einer besseren Welt war selbst für DDR-Kinder als hohle Parole enttarnt worden. Was wir sahen, war eine Realität mit Mangelversorgung sowie die vielen Ungleichheiten und Ungewissheiten, die unsere Eltern beschäftigten. Selbst mit zwölf war mir klar, dass ich so nicht alt und grau werden wollte.

Alternativen zu überlegen, Zwischentöne in der Debatte zuzulassen - dafür war ich jedoch noch nicht alt genug. Was in der politisch elektrisierten Zeit zwischen 1989 und 1990 Bürgerbewegungen wie das Neue Forum oder auch die SPD an Alternativen zur Wiedervereinigung vorschlugen - in meinem Kopf bekam ich das nicht klar zu fassen.

Die DDR vorerst als eigenständiges Staatengebilde weiterexistieren zu lassen, in semi-sozialistischer Denke, wie sollte das gehen? Nur ein bisschen Kapitalismus vielleicht? Ab und an ein kleiner Fahnenappell und ansonsten Coca-Cola trinken? Mein Gehirn war auf Aufbruch aus.

Der Moment als ich mein Pionierhalstuch verbrannte, hinterließ ein gutes Gefühl. Sprengt die Ketten! Auch die Kinder hatten Bock auf Reisefreiheit, freie Meinungsäußerung und Regale voller Cornflakes, Schokolade und Joghurt.

Was die Zwölfjährige in mir so gut fand war, und das ist wohl der Kernpunkt, das war die Klarheit, mit der Kohl seine Botschaft verkündete. Deutschland sollte wiedervereint werden. Dass er sich mit Gorbatschow im Juli 1990 im Kaukasus an einen gigantischen Holzstamm-Tisch setzte, um sein Ziel zu verfolgen: die Wiedervereinigung, eingebettet im - mir bislang unbekannten - kapitalistischen Marktsystem.

Einzig mit ihm erschien die Widervereinigung möglich

Die Wiedervereinigung sollte die DDR endgültig zu einem Kapitel deutscher Geschichte werden lassen. Sie setzte einen Schlussstrich unter meine Kindheit. Sie war glücklich gewesen und gleichzeitig fühlte sich die Erinnerung an die politisch bedingten Einschränkungen noch sehr frisch an. Die Angst, in der Schule etwas Falsches zu sagen, die Sehnsucht nach fernen Ländern, die ich aus Büchern kannte, die Abscheu vor den sinnleeren Parolen auf den Plakaten und Wandzeitungen. Durch die Wiedervereinigung konnte etwas Neues beginnen.

Dieses andere, neue, bessere Leben war es, was dieser obelixhafte Mensch aus der Pfalz verkörperte. Vielen Menschen in der DDR erschien er als Heilsbringer des Moments, versprach er doch, die großen Sehnsüchte eines vernachlässigten Volkes zu stillen, einen Neustart zu ermöglichen. Einzig mit ihm schien die Wiedervereinigung möglich.

Kohl hat die Einheit schließlich durchgezogen, unbeirrbar. Dieselbe Unbeirrbarkeit zeigte er auch später noch, als es ums Aussitzen von Problemen oder Wegdrücken von kritischen Fragen ging. Der Kanzler der Einheit wurde zum Machtsymbol. Dass Kohl schon zu Zeiten vor der Wende innenpolitisch zu kippen drohte im eigenen Land. Dass ihm die "blühenden Landschaften" lange zum Vorwurf gemacht wurden und der Soli dann doch viel mehr als zwei Jahre gezahlt werden sollte. Die vielen Probleme, die folgten und auch dass das Projekt "Deutsche Einheit" als sein persönliches Vermächtnis von ihm bewusst so geplant gewesen sein soll - all diese Punkte nahm ich später wahr, als sich mein politisches Verständnis in den Teenagerjahren weitete.

An Helmut Kohls Vermächtnis der Wiedervereinigung ändert das aber nichts. Es steht da wie ein Hinkelstein.

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