Heinz Fischer:"Weil die Demokratie eben nicht perfekt ist"

Österreichs ehemaliger Bundespräsident über die langjährigen Erfahrungen seines Landes mit großen Koalitionen. Für die Deutschen hat er einen Rat.

Interview von Peter Münch und Paul Munzinger

SZ: In Berlin könnte es bald die dritte große Koalition seit dem Jahr 2005 geben, die Ausnahme wird zum Normalfall. Viele halten das für bedenklich und warnen vor "österreichischen Verhältnissen". Ärgert Sie das?

Heinz Fischer: Es ärgert mich nicht, aber es ist ein sachunkundiger Vergleich. Die große Koalition in Wien hat in den letzten zwei, drei Jahren starke Ermüdungserscheinungen aufgewiesen. Aber wenn ich auf die mehr als 70 Jahre seit Ende des Zweiten Weltkriegs zurückblicke, hat sie einen großen Anteil daran, dass sich Österreich so stabil und friedlich entwickelt hat. Die große Koalition ist kein abschreckendes Beispiel, im Gegenteil: Österreichische Verhältnisse sind stabile Verhältnisse.

Heinz Fischer: Heinz Fischer, 79, war von 2004 bis 2016 Bundespräsident Österreichs. Davor war der Sozialdemokrat und promovierte Jurist Minister und Präsident des Nationalrats. Von 1993 bis 1999 lehrte er in Innsbruck Politikwissenschaft.

Heinz Fischer, 79, war von 2004 bis 2016 Bundespräsident Österreichs. Davor war der Sozialdemokrat und promovierte Jurist Minister und Präsident des Nationalrats. Von 1993 bis 1999 lehrte er in Innsbruck Politikwissenschaft.

(Foto: Christian Charisius/AFP)

Wenn die große Koalition zum Dauerzustand wird, so argumentieren die Kritiker, wird das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition außer Kraft gesetzt. Die Unterschiede zwischen den Volksparteien verwischen, die Ränder profitieren - so wie in Österreich die FPÖ.

Das Erstarken der FPÖ in letzter Zeit, überhaupt ein gewisser Rechtsruck, hängt stark mit dem Flüchtlingsproblem zusammen. Hier sind Ängste mobilisiert und Argumente verwendet worden, die mir Sorge machen. Aber das ist kein Phänomen, das es nur in Österreich gibt.

Die FPÖ war doch schon lange vorher mit ihrer Agitation gegen die "Systemparteien" erfolgreich.

Aber das Ausländerthema hat auch damals eine große Rolle gespielt. Die FPÖ hat sich schon immer profiliert als eine politische Kraft, die gegen Ausländer, gegen den Islam auftritt. Das hat sich als wirksam erwiesen.

Die Vielzahl großer Koalitionen hat die Volksparteien also nicht ausgezehrt?

SPÖ und ÖVP haben ihre Position als Weltanschauungsparteien über die Jahre weit-gehend verloren, die Bindekraft der Parteien hat nachgelassen, die Mobilität der Wähler ist größer geworden, kleine Parteien sind gewachsen. Dieser Prozess wäre mit anderen Regierungen nicht grundlegend anders verlaufen.

Nein?

Die große Koalition hat die Aufsplitterung des Parteiensystems womöglich beschleunigt, vielleicht ist die FPÖ stärker geworden, als dies bei einer anderen Konstellation der Fall gewesen wäre. Aber wir dürfen auch nicht die Vorteile einer großen Koalition übersehen: Ihre Entscheidungen wer-den mit großer Mehrheit getroffen, sind in der Bevölkerung breit verankert. Es ist mehr Stabilität vorhanden.

Zeigt Österreich nicht, dass große Koalitionen die Stabilität, die sie kurzfristig versprechen, langfristig aushöhlen?

Das stimmt so nicht. Stabilität heißt, dass man sich darauf verlassen kann, was eine Regierung macht und dass es langfristige Konzeptionen gibt. Auf Stabilität zu verzichten, nur damit der rechte Rand nicht gestärkt wird, erscheint mir unlogisch. Instabilität kann auch die Ränder stärken.

Alle drei Regierungen, die Sie als Bundespräsident ernannt haben, waren große Koalitionen - die erste kam auf 70 Prozent der Stimmen, die letzte gerade so auf 50. Hatten Sie nie ein ungutes Gefühl?

Natürlich mache ich mir über diese Entwicklung sehr viele Gedanken. Welche Rol-le spielt das Thema Flüchtlinge, die Finanzkrise nach 2008, die Probleme, mit denen sich die Europäische Union beschäftigen muss? Aber deswegen sage ich nicht, an allem ist die große Koalition schuld. Solange die stärkste und die zweitstärkste Partei eine Regierung bilden können und wollen, habe ich keinen Grund gesehen, die FPÖ in die Regierung zu nehmen. Hätte ich das forciert, würden Sie mir jetzt deshalb unangenehme Fragen stellen.

Wo unterscheidet sich die große Koalition in Österreich von der in Deutschland?

Das Proporzsystem war in Österreich stärker entwickelt als in Deutschland. Die große Koalition hat nicht nur in der Regierung paktiert, ihre Entscheidungen reichten weit in die Wirtschaft und viele andere Bereiche hinein. Die große Koalition war hier stärker in den Strukturen des Landes verwoben.

Ist das ein Grund, warum die große Koalition in Österreich viel negativer gesehen wird als in Deutschland?

Warten Sie ab, wie das Urteil in drei, vier Jahren sein wird. Ich glaube positiver als heute. Erstens, weil man die Vergangenheit immer rosiger sieht als die Gegenwart. Und zweitens, weil die Demokratie eben nicht perfekt ist. Die große Koalition ist nicht perfekt, aber alle anderen Regierungen auch nicht.

Hätten die Parteien der großen Koalition mehr tun können, um die FPÖ klein zu hal-ten?

Wo die große Koalition am wenigsten Lob verdient hat und wo sie sich wahrscheinlich schuldig gemacht hat, ist, dass sie in wachsendem Maße ein Bild der Uneinheitlichkeit geboten und egoistische Taktik in den Vordergrund gestellt hat.

Jetzt ist die FPÖ in die Regierung mit der Volkspartei eingerückt, zum zweiten Mal nach 2000. Entzaubert hat sie sich damals nicht, wie von manchen erhofft. Gibt es kein Rezept gegen ihren Aufstieg?

Schauen Sie doch mal anders auf das Problem. In der FPÖ war es zu Zeiten Haiders noch möglich, dass er Hitlers "ordentliche Beschäftigungspolitik" gelobt hat. Heute ist die FPÖ gezwungen, permanent Wasser in ihren Wein zu gießen. Um Stimmen zu bekommen und um regierungsfähig zu werden, hat sie viele ihrer markanten rechten Positionen geopfert.

Also zähmen durch einbinden?

Das würde wahrscheinlich ein heute führender ÖVP-Politiker so bejahen. Ich hätte eine große Koalition immer noch vorgezogen.

In Deutschland wird über Alternativen zur großen Koalition debattiert, über eine Minderheitsregierung oder eine "KoKo", eine Kooperationskoalition. Können Sie solchen Formen der Regierungszusammenarbeit etwas abgewinnen?

Eine Minderheitsregierung hat es in Österreich schon einmal 1970/71 gegeben. Das ist möglich, wenn ein Minimum an Stabilität durch Absprachen gesichert ist. Ob Deutschland als Führungsmacht in Europa sich dazu entscheiden kann wie Bruno Kreisky damals, ist eine andere Frage.

Hätte es in Österreich mehr Mut zum Experiment gebraucht, um dem Automatismus der großen Koalitionen zu entgehen?

Mut zeigt auch der Mameluck, heißt es in der Literatur. Es geht nicht um Mut, sondern um Verantwortung.

Verstehen Sie die Bedenken in der SPD gegen eine erneute Koalition unter Angela Merkel?

Heinz Fischer: Groko die zweite: Angela Merkel präsentiert im Dezember 2013 den Koalitionsvertrag.

Groko die zweite: Angela Merkel präsentiert im Dezember 2013 den Koalitionsvertrag.

(Foto: Johannes Eisele/AFP)

Soll ich mich jetzt zwischen meinem sozial-demokratischen und meinem staatspolitischen Herzen entscheiden?

Ja, bitte.

Wenn die Alternative Neuwahlen sind, dann entscheiden sich beide Herzen für die große Koalition, weil ich fürchte, dass nach Neuwahlen die Situation noch schwieriger ist. Und warum soll sich die SPD nicht auch in einer großen Koalition wieder finden und festigen können? Opposition ist kein Allheilmittel.

Muss man heute nach Österreich blicken, um zu wissen, was Deutschland und Europa politisch bevorsteht?

Das war doch immer umgekehrt, oder? Wir im kleinen Österreich schauen nach Deutschland. Andererseits gibt es auch von Friedrich Hebbel den alten Spruch: Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält.

Und: Stimmt's?

Nein. Demokratie ist nicht unzerstörbar, das haben wir schon erlebt. Aber sie hat mittlerweile starke Wurzeln. In Österreich ist jetzt eine neue Seite aufgeschlagen worden, und die Österreicher werden klug genug sein, nach vier oder fünf Jahren wieder eine Veränderung herbeizuführen, wenn nötig. Ich sehe die Demokratie weder in Österreich noch in Deutschland gefährdet.

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