HDP-Politiker Ertuğrul Kürkçü im Interview:"Deniz Yücel ist eine politische Geisel"

Ertuğrul Kürkçü

Ertuğrul Kürkçü ist Abgeordneter der prokurdischen HDP und kämpft für ein "Nein" in dem von Präsident Erdoğan geplanten Verfassungsreferendum.

(Foto: privat)

Zwölf Parteigenossen sitzen im Gefängnis: Ertuğrul Kürkçü ist Abgeordneter der prokurdischen HDP - und spürt täglich den Druck der Erdoğan-Regierung.

Interview von Julia Ley

Ertuğrul Kürkçü, geboren 1948 in Bursa, ist so etwas wie die graue Eminenz der türkischen Linken. Er verbrachte über vierzehn Jahre seines politischen Lebens in Haft, zuletzt in den 1990er-Jahren, weil er einen Human-Rights-Watch-Bericht ins Türkische übersetzt hatte.

Bei den Parlamentswahlen im Juni 2011 trat Kürkçü als unabhängiger Kandidat in der Provinz Mersin an und wurde ins Parlament gewählt. Bis 2014 war er Ko-Vorsitzender der prokurdischen Oppositionspartei HDP. Heute ist er ihr Ehrenpräsident, hält ein Mandat in Izmir und kämpft für ein "Nein" zu dem von Erdogan geplanten Verfassungsreferendum.

Sz.de: Herr Kürkçü, am 16. April wird die Türkei über eine neue Verfassung abstimmen. Die HDP ist vehement gegen die geplante Reform. Warum?

Weil sie die Gewaltenteilung beenden würde. Wenn die Änderungen umgesetzt werden, hätte Erdoğan allein die Kontrolle über die Legislative, Exekutive, die Justiz und das Militär. Das ist eine Rückkehr zur Monarchie, gegen die wir in der Türkei lange gekämpft haben. Deshalb versuchen wir, die türkische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass dieses Referendum die letzte Chance sein könnte, eine faschistische Diktatur noch zu verhindern.

Viel von dem, was Sie beschreiben, scheint auch heute schon zu gelten. Kritische Richter müssen um ihren Job fürchten, unliebsame Abgeordnete sind in Haft, die Presse ist zu großen Teilen kontrolliert...

De facto kontrolliert Erdoğan auch jetzt schon viele Bereiche. Aber das ist nur möglich, weil er bestehende Gesetze ignoriert. Die geplante Reform würde diesen Zustand legalisieren. Die nationalistische Oppositionspartei MHP unterstützt Erdoğan übrigens mit genau diesem Argument: Dass man die Gesetze und die Verfassung anpassen muss, um den gegenwärtigen Zustand zu legitimieren. Damit der Präsident nicht zum kriminellen Diktator wird, bereitet man ihm eine gesetzesgemäße Diktatur.

Wie stehen die Chancen, dass Erdoğan das Referendum gewinnt?

Bisher hat keine Umfrage eine Mehrheit für ein "ja" ergeben - nicht einmal jene, die von der AKP in Auftrag gegeben wurden. Deshalb versucht der Präsident jetzt alles, um Konflikte zu schüren. Er heizt Auseinandersetzungen mit unseren Nachbarn an, befeuert den Kurdenkonflikt. All das, um zu erreichen, dass die Menschen sich letztlich hinter einem starken, nationalistischen Führer vereinen.

In den letzten Tagen haben mehrere deutsche Städte Veranstaltungen abgesagt, bei denen türkische Minister für die Verfassungsreform werben wollten. Finden Sie das richtig?

Grundsätzlich sollte jeder Mensch das Recht haben, seine Meinung überall frei zu äußern, ob er nun Türke, Grieche oder Russe ist. In diesem Fall liegen die Dinge aber anders: Ein türkischer Minister in Deutschland ist nicht nur Repräsentant seiner Partei, er ist Repräsentant aller Türken. Und als solcher würde ich von ihm erwarten, dass er sich damit zurückhält, Wahlkampf für eine Seite zu machen. Außerdem schien das Problem ja zu sein, dass sie die Veranstaltungen nicht rechtzeitig angemeldet haben. Ich bin mir sicher, wenn sie das getan hätten, hätten sie auch sprechen können.

Erdoğan sieht das offensichtlich anders. Er sagte, man solle die Verantwortlichen wegen Beihilfe zum Terrorismus verklagen.

Die türkische Regierung nutzt diesen Konflikt, um an die nationalistischen und xenophoben Gefühle ihrer Wähler zu appellieren. Die AKP spielt ihre Paraderolle: Die der Unterdrückten. "Die Europäer, diese Imperialisten, wollen uns verbieten, die Wahrheit zu sagen", das ist Erdoğans Standarddrama. Wer weiß, ob sie nicht sogar manche Veranstaltungen absichtlich nicht ordentlich angemeldet haben, um sich dann hinterher darüber beschweren zu können.

"Zwölf unserer Abgeordneten sitzen im Gefängnis"

Wie groß ist der Druck, wenn man sich aktiv für ein "Nein" einsetzt?

Groß. 80 Prozent der türkischen Medien werden bereits von der regierenden AKP oder Geschäftsleuten kontrolliert, die eng mit Erdoğan verbandelt sind. Normalerweise müssen die Medien vor einer Wahl beiden Seiten etwa gleich viel Sendezeit einräumen. Doch nun hat die Regierung ein Dekret erlassen, das diese Vorgabe abschafft. Es gibt aber auch direkte Einschüchterungsversuche. Menschen, die Flugblätter für "Nein" verteilen, werden festgenommen - natürlich mit fadenscheinigen Begründungen.

Funktioniert die Einschüchterung?

Die Menschen gehen trotzdem demonstrieren. Sie machen selbst dann weiter, wenn ihre Freunde verhaftet werden. Sie gehen von Tür zu Tür und sprechen miteinander, anstatt sich auf die Medien zu verlassen. Die Einschüchterungsversuche scheinen also wenig Wirkung zu zeigen.

Die Erdoğan-Regierung versucht, Ihre Partei, die HDP, als Handlanger der PKK und Terrorunterstützer zu diskreditieren. Wie wirkt sich das aus?

Zwölf unserer Abgeordneten sitzen im Gefängnis, darunter auch die beiden Vorsitzenden der HDP. Hinzu kommt, dass die Medien ausschließlich negativ über uns berichten. Jeder Sender hat eine Talkshow, in der über uns geredet wird, aber keiner unserer Abgeordneten wird eingeladen. Da unsere Unterstützung zu großen Teil aus der kurdischen Bevölkerung kommt, kann uns all das aber nicht viel anhaben. Erdoğan müsste schon die Kurden außer Landes schaffen oder eine Atombombe abwerfen, um diese Leute umzustimmen.

Seit gut zwei Wochen ist der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel in Haft. Die Behörden werfen ihm Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung vor. Gestern sprach Präsident Erdoğan dann plötzlich davon, dass Yücel ein Spion für die deutsche Regierung sei. Was halten Sie von diesen Vorwürfen?

Ich kenne Deniz seit langem. Er berichtet gerne über Dinge, die kontrovers diskutiert werden. Und das stört die türkischen Behörden. Es steht für mich außer Frage, dass die Vorwürfe ohne Gehalt sind. Wirklich interessant an dem Fall ist, dass Erdogan sich persönlich eingemischt hat. Er wirft Yücel vor, ein deutscher Spion zu sein - ohne irgendwelche Beweise dafür vorzulegen. Er übt damit Druck auf die Justiz aus, Deniz nicht einfach so davonkommen zu lassen.

Welches Ziel bezweckt die türkische Regierung mit seiner Inhaftierung?

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Deniz eine politische Geisel ist. Die Regierung wird ihn benutzen, um Druck im Fall der Ditib-Imame auszuüben, vielleicht wird es eine Art Geiseltausch geben - auch wenn man die beiden Fälle überhaupt nicht vergleichen kann. Denn im Fall der Ditib-Imame steht ja außer Frage, dass die Vorwürfe stimmen.

Also erpresst der türkische Präsident die Bundesregierung?

Ja, und das ist natürlich eine unglückliche Situation für Deniz. Aber Deniz' Fall wird von Menschenrechtsorganisationen und Journalisten beobachtet und die deutsche Regierung setzt sich für ihn ein. Ich glaube nicht, dass die türkische Regierung das lange durchhalten kann. In einigen Monaten ist er wieder auf freiem Fuß.

Der Fall Böhmermann, die Ditib-Imame, jetzt Deniz Yücel. Das türkisch-deutsche Verhältnis ist ziemlich zerrüttet. Aus deutscher Sicht wirkt es, als würde Erdogan sich von einem diplomatischen Skandal zum nächsten hangeln. Was hat er davon?

Erdogan kann im Grunde nicht mehr anders handeln. Würde er jetzt plötzlich die Tür zur Demokratie einen Spalt breit öffnen, dann würde er verlieren. Ohne Gewalt und Tyrannei könnte er nicht mehr weitermachen. Und Deniz zahlt jetzt den Preis dafür.

Insgesamt sitzen fast 3000 Mitglieder ihrer Partei im Gefängnis. Sie selbst kritisieren die Regierung häufig und freimütig. Haben Sie Angst, selbst festgenommen zu werden?

Derzeit laufen 13 verschiedene Verfahren gegen mich. Wenn die Regierung beschließt, mich zum Teil ihrer politischen Kalkulation zu machen, dann bin ich morgen ebenfalls im Gefängnis. Ich hoffe natürlich, dass das nicht passiert. Aber ich lasse mich davon nicht aufhalten. Ich weiß, dass alles, was ich Ihnen jetzt sage, veröffentlicht wird. Ein türkischer Diplomat wird es lesen und es der Regierung berichten. Wir alle nehmen diesen Preis in Kauf.

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