HDP-Politiker Demirtaş:Neue Friedensgespräche unter Erdoğan? "Das ist nur ein leerer Traum"

Pro-kurdische Partei HDP

"Es ist gefährlich, was die Türkei in Syrien macht": Der Vorsitzender der pro-kurdischen Partei HDP

(Foto: dpa)

Selahattin Demirtaş, Chef der prokurdischen HDP, fordert im SZ-Interview einen internationalen Vermittler im Kurdenkonflikt und erklärt, warum er die PKK nicht als Terroroganisation sieht.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Terror von allen Seiten, ungelöste Konflikte im Inneren. Die Türkei ist ein Unruhe-Land. Der Kampf gegen die terroristische kurdische PKK wird seit einem Jahr wieder so blutig geführt wie schon lange nicht mehr. Im Sommer 2015 scheiterte der Friedensprozess. Fast täglich sterben wieder Menschen. Selahattin Demirtaş, 43, Vorsitzender der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP sprach mit der Süddeutschen Zeitung darüber, warum es dem Land so schwer fällt, seinen Frieden zu finden.

SZ: Halten Sie einen neuen Anlauf für Friedensgespräche unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan für möglich?

Selahattin Demirtaş: Das ist nur ein leerer Traum. Im Moment stützt Erdoğan seine Politik auf Kurdenfeindschaft. Er würde nur zum Friedensprozess zurückkehren, wenn er müsste.

Was könnte Erdoğan zum Umdenken zwingen?

Die Kriegsgegner in der Türkei müssen lauter und sie müssen stärker werden. Es ist wichtig, dass die Türken Position gegen den Krieg beziehen, nicht nur die Kurden. Erdoğan lässt aber Akademiker und Journalisten verhaften, die diesen Standpunkt vertreten. Er möchte sie einschüchtern. Außerdem sollte auch die internationale Gemeinschaft Druck ausüben. Die Europäische Union und die USA sollten über dieses Thema klarer sprechen. Sie sagen immer: Wir respektieren die Terrorbekämpfung der Türkei. Aber dabei soll die Türkei auf die Einhaltung der Menschenrechte achten. Unserer Meinung nach sollten sie erklären: Wir rufen beide Seiten zu einem Waffenstillstand auf. Wir sind bereit, bei diesem Waffenstillstand und am Verhandlungstisch Beobachter oder Vermittler zu sein. Warum kann die deutsche Regierung dies nicht mit dem gleichen Mut sagen?

Sie wollen einen internationalen Vermittler im Kurdenkonflikt?

Ja. Beide Seiten haben kein Vertrauen mehr. Ein Vermittler kann zu einem guten Verlauf der Verhandlungen beitragen. Ich nenne das nicht als Bedingung. Ein Vermittler kann die Arbeit erleichtern. Auch ohne Vermittler sollten die Gespräche wieder aufgenommen werden.

Wer könnte die Rolle übernehmen?

Die Vereinten Nationen oder die Europäische Union könnten diese Rolle übernehmen. Auch ein einzelnes Land. Niemand sollte es ertragen, dass ein Volk so lange unter Qualen leidet, nur damit die Beziehungen zur Türkei nicht beschädigt werden. Die Kurden sind ein Volk von 50 Millionen Menschen. Sie haben das Recht auf Selbstverwaltung. In einigen Ländern könnte das die Autonomie sein, in anderen eine föderale Struktur.

Was kann man vom Friedensabkommen zwischen kolumbianischer Regierung und der Farc-Guerilla nach mehr als 50 Jahren des Kampfes lernen?

Die Fälle sind natürlich nicht identisch. Aber auch in Kolumbien hatten sie schwierige Verhandlungen. Schließlich waren beide Seiten entschlossen, für den Frieden und eine Einigung zu kämpfen. Wie dauerhaft der Frieden sein wird, wissen wir nicht. Wir lernen aber daraus, auf Frieden zu bestehen. Wir dürfen den Wunsch nach einer Lösung nicht aufgeben. Und: In Kolumbien waren auch Vermittler tätig, die viel geholfen haben.

Kann es in der Türkei eine Lösung geben, ohne die PKK einzubeziehen?

Die PKK ist eine gigantische bewaffnete Organisation mit einer breiten Unterstützung im Volk. Wir sind auch eine starke politische Partei und hinter uns steht die Unterstützung von Millionen. Es liegt aber nicht in unserer Hand, die PKK zur Waffenniederlegung zu zwingen. Wir haben keine Macht und keine Befugnis dazu. Die PKK ist keine Partei, die von uns Instruktionen bekommt. Sie ist von uns unabhängig. Natürlich sind wir befugt, über die Rechte der Kurden und über die Demokratie zu sprechen. Aber der Frieden hat mehrere Säulen. Eine davon ist das Niederlegen der Waffen. Besonders bei diesen Themen sind Verhandlungen ohne die PKK unmöglich. Man muss sich mit denen versöhnen, gegen die man kämpft.

Welche Rolle kann der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan spielen?

Die PKK gab in der Vorwoche eine Erklärung ab und sagte, wenn die Regierung mit Öcalan neue Gespräche führt, würde sie den Aufrufen Öcalans folgen. Wir wünschen uns, dass die Regierung mit ihm neue Gespräche anfängt. Im Moment machen wir uns Sorgen um seinen Gesundheitszustand. Seit dem Putschversuch gibt uns die Regierung keine Informationen. Wir wollen wissen, wie es ihm geht.

Kann nur Öcalan die PKK-Kämpfer zum Waffenstillstand bewegen?

Absolut. Wir sind sehr sicher, dass sie sonst auf niemanden hören würden.

"Wir definieren die PKK nicht als eine Terrororganisation"

Wieso fällt es der HDP so schwer, sich von der PKK zu distanzieren, auch von der Gewalt?

Das ist nicht schwer. Ich habe tausende Male gesagt: Wir akzeptieren ihre Gewalt nicht. Wir sind auch absolut nicht der politische Arm der PKK. Aber wir müssen die PKK auch nicht so definieren, wie die Regierung und der Staat dies tun. Das kurdische Volk leidet seit 100 Jahren unter Staatsterror. Die PKK ist eine Gewaltorganisation, die als Reaktion auf diesen Staatsterror entstand. Als 1938 in Dersim ein großes Massaker verübt und kurdische Aleviten vernichtet wurden, gab es noch keine PKK. Nach dem Militärputsch 1980 wurden viele kurdische und türkische Revolutionäre gefoltert. Wir rufen die PKK immer wieder auf, mit der Gewalt aufzuhören.

Ist es aus Ihrer Sicht kein Terror, den die PKK verübt?

Wir definieren die PKK nicht als eine Terrororganisation. Aber ihre Anschläge, die Zivilisten treffen, definieren wir als Terroraktionen. Und wir scheuen uns nicht, dagegen zu protestieren. Weil wir das so sehen, laufen hunderte Prozesse gegen uns. Allein gegen mich sind es 102 Verfahren mit der Forderung nach fast 550 Jahren Haft.

Die PKK hat den Konvoi von Kemal Kılıcdaroğlu beschossen, dem Chef der größten Oppositionspartei, der CHP.

Wir waren die ersten, die dagegen protestierten.

Im Parlament ist die HDP isoliert. Sabotiert die PKK mit solchen Attacken die Arbeit der HDP?

Sie tun dies nicht, damit es der HDP zugutekommt. Die Regierung nimmt solche Attacken zum Anlass, uns verantwortlich zu machen. Das schadet ohne Zweifel der HDP.

Warum hat eine HDP-Abgeordnete nach einem Anschlag die Familie des Selbstmordattentäters besucht?

Das war etwas, das sich spontan entwickelt hatte. In der Presse wurde der Name des Selbstmordattentäters bekanntgegeben. Wir haben eine sehr junge Abgeordnete, die die Familie gut kennt. Sie wollte sich erkundigen: Ist es ihr Kind, habt ihr Informationen darüber? Die Familienangehörigen waren ihre Wähler und sie kannten sich. Aber die Presse schilderte das Treffen als "Beileidsbesuch". In diesem Krieg sterben viele. In den Augen der Regierung ist jeder getötete kurdische Jugendliche Terrorist. Auch ihre Familienangehörigen sind Terroristen. Wir können den Schmerz der Familien nicht ignorieren. Bei Selbstmordattentätern, die Zivilisten zum Ziel haben, ist das etwas anderes. Ich habe den Besuch auch kritisiert und zum Ausdruck gebracht, dass es nicht richtig war.

In Syrien wird die Lage immer unübersichtlicher, seitdem die Türkei Soldaten über die Grenze geschickt hat. Die Truppen kämpfen auch gegen Kurden, die ein großes Gebiet entlang der Grenze unter Kontrolle gebracht haben. Welche Auswirkungen hat das auf die Türkei?

Es ist gefährlich, was die Türkei in Syrien macht. Kurden sind dort sesshaft. Sie haben das Land nicht besetzt. Aber die Türkei führt sich wie ein Besatzer auf. Die Kurden sind die wirksamste Kraft im Kampf gegen den Islamischen Staat. Aber für Erdoğan sind die Kurden gefährlicher als der IS. Erdoğan versucht in Syrien Zweierlei zu erreichen: Er will die Kurden stoppen und zurückdrängen. Damit verschafft er dem IS Luft zum Aufatmen.

Kann es eine Lösung für den Kurdenkonflikt in der Türkei geben ohne Frieden im Syrien?

Nein, beides ist miteinander zu sehr verknüpft.

Was bedeutet das für die Lösung, wie lange wird es dauern?

Kurzfristig ist keine Lösung in Sicht.

Inwieweit verschärft die Lage in Syrien den Kurdenkonflikt in der Türkei?

Erdoğan und seine Regierung werden unruhig, wenn die Kurden in Syrien und im Irak stärker werden. Sie denken, dass die Türkei umzingelt wird. Sie reagieren paranoid.

Auf syrischem Grund entsteht ein autonomes Gebiet.

Es existiert de facto ein autonomes Gebiet.

Kann das Beispiel sein für die Türkei?

Es kann nicht eins zu eins auf die Türkei übertragen werden. Die Türkei muss ihre eigene Lösung finden. Unser Vorschlag ist folgender: Wir wollen, dass die Türkei zu einer Art Regionalsystem wie in Deutschland übergeht. Und innerhalb dieses Systems würden auch Kurden ihre Gebiete haben. Autonom heißt für uns nicht Unabhängigkeit. Wir meinen eine regionale Verwaltung. Wir wollen nicht, dass der Osten der Türkei den Kurden als Gebiet zugeteilt wird und die übrige Türkei weiterhin von einem zentralen System verwaltet wird. Überall in der Türkei leben Kurden und Türken. Die größte kurdische Stadt ist Istanbul.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: