Am Vormittag posierte Rachel Reeves vor ihrem Amtssitz in Downing Street 11, in der Hand den roten Lederkoffer, in dem britische Finanzminister traditionell ihren Haushaltsentwurf ins Parlament hinübertragen. Für die zupackende Ministerin dient er als Werkzeugkoffer für eine denkbar aufwendige Reparatur. Seit ihrem Amtsantritt im Sommer wird im Vereinigten Königreich gerätselt, wie viele Hämmer sie an diesem Mittwoch auspacken wird.
Als sie am Mittag ihr Budget im Unterhaus vorstellt, wird schnell klar: Die Regierung trifft, wie immer wieder angedroht, „harte Entscheidungen“, ohne aber, wie immer wieder versprochen, die Belastungen für „arbeitende Menschen“ zu erhöhen.
Die Erbschaftsteuer steigt, Steuererleichterungen fallen weg
Reeves kündigt Steuererhöhungen an, die Einnahmen von insgesamt 40 Milliarden Pfund generieren sollen, das größte Paket seit mehr als dreißig Jahren. Am meisten, namentlich 25 Milliarden Pfund, soll die Anhebung der Sozialabgaben auf Arbeitgeberseite von bisher 13,8 Prozent auf 15 Prozent bringen. Daneben wird die Kapitalertragsteuer von zehn Prozent auf 18 Prozent (in der höchsten Stufe von 20 Prozent auf 24 Prozent) steigen, sie bleibe aber „immer noch die niedrigste der G-7-Länder“.
Die Erbschaftsteuer wird angehoben; Steuererleichterungen werden aufgehoben, sowohl für Privatschulen als auch für „non-doms“, also im Königreich lebende Ausländer, die auf Einkommen, das sie außerhalb des Vereinigten Königreichs beziehen, keine Steuern zahlen. Auch werden unter anderem Flüge in Privatjets sowie Tabak- und Vapingprodukte und gezuckerte Getränke stärker besteuert.
Gleichzeitig kündigte Reeves milliardenschwere Investitionen an, in den Gesundheitsdienst (22,6 Milliarden Pfund), in den Hausbau (5 Milliarden), in Schulen (2,3 Milliarden), in grüne Energie, in Verteidigung, in Straßen und Gleise. Der Mindestlohn in Großbritannien und Nordirland steigt von 11,44 auf 12,21 Pfund.
Die Tories haben ihrer Nachfolgeregierung viele ernste Probleme hinterlassen
Selten wurde im Vereinigten Königreich der Vorstellung eines Haushalts so entgegengefiebert wie dieses Mal. Reeves hat 117 Tage zwischen Amtsantritt und Budgetverkündung verstreichen lassen, eine Entscheidungsfindung, die historisch gesehen ungewöhnlich lange gedauert hat, am Ehrgeiz der neuen Regierung gemessen aber nicht unverständlich erscheint: Labour hat bei der Machtübernahme im Sommer nicht weniger als den „Wiederaufbau Großbritanniens“ angekündigt.
Die 14 Jahre davor waren die Tories an der Macht, und ihre Premierminister und Premierministerinnen haben zum einen für erstaunliche Kuriosa gesorgt. Da wären in jüngerer Vergangenheit Rishi Sunak, der im Mai im Regen stehend überraschend Wahlen für Anfang Juli ausrief, während Protestierende im Hintergrund das Lied „Things can only get better“ abspielten; seine Vorgängerin Liz Truss, die an der Spitze des Königreichs schneller welk wurde als ein (von einer Boulevardzeitung im Livestream gezeigter) Salatkopf; deren Vorgänger Boris Johnson, der eben Boris Johnson war.
Zum anderen haben die Konservativen der Labour-Konkurrenz ernsthafte Probleme hinterlassen: Die Wirtschaft muss sich erst wieder von einer Rezession vergangenes Jahr erholen. Die Briten verdienten inflationsbereinigt im Jahr 2022 weniger als im Jahr 2008, während die Lebenshaltungskosten immens stiegen. Auf dem Immobilienmarkt fehlt es an erschwinglichen Wohnungen, während nahezu ein Drittel der 14 Millionen Kinder im Königreich in relativer Armut aufwächst. Am gravierendsten: Dem Gesundheitsdienst NHS mangelt es an allem außer an Patienten, die monatelang auf Behandlungen warten müssen.
Eine rigorose Sparpolitik hat Labour eigentlich ausgeschlossen
Die Finanzministerin, erste Frau in dem Amt, setzt in erster Linie auf langfristiges Wirtschaftswachstum. Das Vereinigte Königreich soll schneller zulegen als andere G-7-Länder, das ist die Mission. Die Labour-Regierung hat sich dafür vorgenommen, seriöser (also weniger kurios) als die Brexit-Tories aufzutreten, deren instabile Politik die Bürger wie die Wirtschaft verunsicherte.
Die zentrale politische Frage nun, die an diesem Mittwoch aus einer obligatorischen Zahlenpräsentation ein spektakuläres Event macht: Wo soll das Geld für die Vorhaben herkommen? Zumal Labour zentrale Maßnahmen kategorisch ausgeschlossen hatte: eine rigorose Sparpolitik, neue Schuldenberge und die Erhöhung der breiten Steuern für arbeitende Bürger, also Lohn- und Einkommensteuer sowie der Sozialbeiträge.
Jedenfalls berichteten Medien seit Wochen über kaum etwas anderes als über Reeves Budget, abgesehen von den Schlagzeilen über geschenkte Kleidung und Fußballkarten für (dann doch wieder als unseriös enttarnte) Regierungspolitiker.
70 Prozent der Briten denken laut Umfrage, dass die Lage eher schlechter wird
Die beiden Themen haben die Beliebtheitswerte der mit riesigem Vorsprung gewählten Regierung in bis vor Kurzem noch unvorstellbare Tiefen getrieben. Von den Maßnahmen, die im Vorfeld der Haushaltsverkündung diskutiert (weil von Labour vorab verkündet oder geleakt) wurden, nehmen die Briten der Regierung vor allem die bereits im Juli beschlossene Streichung des Heizkostenzuschusses für Rentner übel. Auch die angekündigte Anhebung des Maximalpreises für Busfahrten von zwei auf drei Pfund sorgte für Unmut.
Überhaupt fehlt es im Königreich an Optimismus: 70 Prozent der Bürger denken, dass die Lage eher schlechter wird, nur sieben Prozent sehen eine Verbesserung, wie die Meinungsforscher der Organisation „More in Common“ am Montag mitteilten.
„Things can only get better“? Ob das Budget für Aufbruchstimmung sorgt, ist offen. Der Wirtschaftsexperten Paul Johnson vom Institute for Fiscal Studies begrüßte auf X die effektiven, wenn auch unpopulären Maßnahmen, etwa den Wegfall von Steuererleichterungen bei Erbschaften. Auch ist Johnson beeindruckt von der Investition in den NHS.
Am Ende aber wird das Wirtschaftswachstum zeigen, wie wirksam das Budget ist. Die Prognosen bis 2029, die Reeves ebenfalls am Mittwoch vorstellte, liegen, nicht unbedingt hammermäßig, zwischen 1,1 und zwei Prozent pro Jahr.