Hauptbahnhof Mainz:Abgekoppelt bis zum Herbst

Hauptbahnhof Mainz

Kein Anschluss: Reisende warten auf dem Hauptbahnhof Mainz auf ihre nächste Verbindung.

(Foto: dpa)

Reisende ärgern sich, die Republik staunt. Es liegt womöglich an der persönlichen Entscheidung dreier Fahrdienstleiter, wie lange das Bahnchaos noch dauert. Den dreien werde nahegelegt, ihren Urlaub abzubrechen, so die Bahn. Personal von außerhalb müsste erst monatelang angelernt werden.

Von Guido Bohsem und Jens Schneider

Was viele Mainzer schon als Zumutung empfanden, war am Ende nur eine Art Vorspiel für das Chaos, das noch kommen sollte. Abend für Abend koppelte die Bahn in der vergangenen Woche den Hauptbahnhof der Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz weitgehend vom Fernverkehr ab.

In dieser Woche trifft es die Mainzer richtig hart, und dazu die ganze Region. Von Montag an werden tagsüber Züge umgeleitet oder fallen aus, die Streichungen betreffen den Regionalverkehr massiv. Bis Ende August soll das Chaos rund um den Verkehrsknotenpunkt andauern, vielleicht sogar länger. Und das alles, weil im Stellwerk Mainz knapp die Hälfte der 15 Fahrdienstleiter krank oder im Urlaub ist, kein Ersatz in Sicht.

Wann alles wieder normal laufen wird, kann die Bahn nicht sagen. In den nächsten Monaten befinde man sich auf dünnem Eis, hatte Frank Sennhenn, Vorstandschef der DB Netz AG, schon am Donnerstag verkündet. Ja, das sei ihm peinlich, schnell ändern könne er trotzdem nichts.

Das reicht der Politik nicht. Der Druck wächst. Am Dienstag will die Landesregierung mit dem Konzern, Gewerkschaftern und auch dem Mainzer Oberbürgermeister über das Problem Mainz-Hauptbahnhof sprechen.

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer hat bei Bahn-Chef Rüdiger Grube interveniert. Im Konzern gibt es erste Konsequenzen: Der Produktionsvorstand der Bahntochter DB Netz, Hansjörg Hess, muss gehen. Die Bundesregierung will das Thema auf die Tagesordnung der nächsten Aufsichtsratssitzung setzen. In der Politik ist die Sorge groß, weil man Mainz nicht für einen Einzelfall hält.

Könnte Mainz überall sein?

Es herrscht die Furcht, dass es zu ähnlichen Zuständen auch in Köln, Berlin, Hamburg oder anderen Städten kommen kann. Könnte Mainz überall sein? Glaubt man der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), fehlt an vielen Stellen Personal, werden Überstunden geschoben. Bei Ausfällen werde oft improvisiert, das gehe zu Lasten des verbliebenen Personals.

Über Jahre hatte die Leitung die Bahn auf den Börsengang getrimmt und massiv Stellen abgebaut. Als das Vorhaben abgeblasen wurde, blieb ein Unternehmen mit notorischem Personalmangel und ohne die erhoffte Geldspritze von den Aktienmärkten übrig.

Allerdings hat die neue Konzernführung um Bahn-Chef Grube schon vor geraumer Zeit den Kurs gewechselt. Der Fokus liegt jetzt darauf, neue Mitarbeiter zu finden. Die Bahn wirbt intensiv um Nachwuchs. Aber es ist schwer, die Versäumnisse früherer Jahre aufzuholen.

Aktuell sind mehr als 1600 unbefristete Jobs im Angebot - vom Designer für Online-Projekte bis zum Fahrzeugreiniger oder Ingenieur für Infrastruktur. 2012 stellte das Unternehmen circa 10.000 neue Mitarbeiter ein, in den ersten sieben Monaten des laufenden Jahres waren es etwa 6000.

Eine Million Überstunden

In Mainz allerdings fehlen Mitarbeiter, die es sonst nirgendwo gibt. Die Bahn kann Fahrdienstleiter nicht abwerben, sie muss sie selbst ausbilden, es gibt den Beruf nur bei ihr. Um zu verstehen, was so ein Fahrdienstleiter macht, hilft eine alte Eisenbahner-Anekdote über den Streit, wer eigentlich den Zug fahren lasse: Der Lokführer verweist darauf, dass er in der Lokomotive sitze, worauf der Fahrdienstleiter kontert, dass kein Zug sich bewege, wenn er nicht auf grünes Licht schalte.

Tatsächlich kann man sich die Arbeit eines Fahrdienstleiters so vorstellen wie das Bedienen einer sehr komplizierten Modell-Eisenbahn. Er ist eine Art Fluglotse für den Schienenstrang und muss dafür sorgen, dass die Fahrstrecke so gestellt ist, dass die Züge im Bahnhof ankommen - reibungslos.

Stressig wird der Job, wenn es ständig zu Verspätungen und Unregelmäßigkeiten kommt und Züge umgeleitet werden müssen. Um dies schnell und effizient zu bewerkstelligen, muss ein Fahrdienstleiter genaue Kenntnisse über das Streckennetz rund um sein Stellwerk haben.

Er sollte den Schienenverlauf, die Weichen und den Fahrplan beinahe im Schlaf beherrschen. Dazu ist nach Angaben der Bahn für das Stellwerk Mainz selbst für bereits ausgebildete Kräfte eine Einarbeitung von drei Monaten notwendig. Also könne ein Fahrstellenleiter auch nicht ohne Weiteres beispielsweise aus Köln nach Mainz ausgeliehen werden. Deshalb gebe es, so die Erklärung der Bahn, keine schnelle Lösung für Mainz.

Die etwa 3000 Weichen-Schaltzentralen der Bahn werden in den allermeisten Fällen mechanisch betrieben. Nur 415 Stellwerke seien computergesteuert. Als Berufsanfänger erhalten Fahrdienstleiter an einem einfachen Stellwerk nach Angaben der Gewerkschaft etwa 2000 Euro brutto plus Zulage. Ein erfahrener Mitarbeiter an einem komplizierten Stellwerk kommt auf etwa 3000 Euro mit Zulagen.

Es gibt bei der Bahn etwa 12.500 Fahrdienstleiter. Nach Aussagen der Gewerkschaft EVG fehlen hier angesichts von etwa einer Million Überstunden 1000 zusätzliche Mitarbeiter. Nach Angaben der Bahn gibt es derzeit schon 250 mehr Fahrdienstleiter als zu Beginn des Jahres. Zu wenig, nach Meinung der Gewerkschaft. Der Konzern begegne dem Personalmangel halbherzig.

Brüderle: "Bahn macht sich international lächerlich"

In einem Brief an den Bahn-Vorstand für Infrastruktur hat Verkehrsstaatssekretär Michael Odenwald die Situation in Mainz als nicht akzeptabel bezeichnet: "Insbesondere wichtige Knotenpunkte aber auch die Landeshauptstädte müssen durchgängig erreichbar sein."

Die Bahn solle prüfen, Mitarbeiter aus dem Urlaub zurückzuholen. Dieser Forderung hat sich FDP-Generalsekretär Patrick Döring angeschlossen: "Die urlaubenden Mitarbeiter sollten sofort auf Kostenerstattung der Bahn ihren Urlaub abbrechen und Dienst tun", sagte er der Bild am Sonntag. FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle sagte, die Bahn mache mit der Situation in Mainz den deutschen Schienenverkehr international lächerlich.

Die Bahn versucht nun, die drei Mainzer Fahrdienstleiter zurückzuholen, die im Urlaub sind. "Wir können das aber nicht erzwingen", sagte eine Sprecherin. DB Netz-Chef Sennhenn hatte eine solche Rückholaktion am Donnerstag noch kategorisch abgelehnt. Die Stellwerker bräuchten ihre Erholung.

Auch der Vorsitzende der Eisenbahngewerkschaft EVG sieht das so. "Unsere Kolleginnen und Kollegen brauchen ihren Erholungsurlaub dringend", erklärt Alexander Kirchner. Mitarbeiter im Mainzer Stellwerk hätten bereits mehrfach den Urlaub verschieben müssen oder seien zurückgeholt worden. An vielen Stellwerken in Deutschland sei das nicht anders.

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