Antisemitismus in Europa:Komplizen des Holocaust

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Warschau unter deutscher Herrschaft 1940: Eine Frau sitzt in einer Straßenbahn, mit der nur Juden fahren durften. Bei anderen Verkehrsmitteln wiederum war die Benutzung für Juden verboten. Auf diese Weise trennten die Besatzer Juden und Nicht-Juden voneinander. Wenig später begannen die NS-Führung mit der systematischen Ermordung der jüdischen Europäer. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Historiker Götz Aly dokumentiert die Judenfeindschaft in Europa vor 1945 - und den Hass auf Holocaust-Überlebende nach dem Zweiten Weltkrieg.

Rezension von Barbara Distel

Es ist sicherlich nicht rufschädigend zu behaupten, dass Götz Aly, den die Welt als "Bestsellerautor, Journalist und Historiker" tituliert, umstritten ist. Der heute fast Siebzigjährige hat es im Laufe von Jahrzehnten immer wieder verstanden, Mitglieder seiner Zunft vor den Kopf zu stoßen, persönlich zu kränken oder lächerlich zu machen.

Wandte sich in den 1980er Jahren seine Kampfeslust gegen das zeithistorische Establishment, so überraschte er seine Leser in späteren Jahren mit warmen Worten für Professor Ernst Nolte, der 1986 den Historikerstreit mit der Frage ausgelöst hatte, ob der Holocaust eine Reaktion der Nationalsozialisten auf vorausgegangene Massenverbrechen des Gulag-Systems in der Sowjetunion gewesen war.

Mitarbeiter von Gedenkstätten bezeichnete er als "schlecht getarnte Langweiler, die einfallslos und betulich an ihren Lebenszeitstellen kleben und den Status quo verteidigen". Und in seinem Buch "Unser Kampf" (2010) polemisierte er gegen die Studentenbewegung der 1968er Jahre, der er selbst angehört hatte und deren Wirken er im Nachhinein als "kollektiven Wahn" apostrophierte.

Daneben erforschte und publizierte er unermüdlich zur Geschichte des Holocaust und dem Verhalten der Deutschen während der Jahre der nationalsozialistischen Diktatur. Er wurde mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet und ist heute ein beliebter Gesprächspartner und Kommentator in Presse Rundfunk und Fernsehen.

Die Erretteten waren nirgendwo willkommen

Nun hat Götz Aly eine neue Studie "Europa gegen die Juden 1880 bis 1945" publiziert. In neun Kapiteln legt er dar, wie sich außerhalb Deutschlands, insbesondere in Ländern Mittel- und Osteuropas lange vor dem Zweiten Weltkrieg Judenhass sowie Mord und Vertreibung der jüdischen Minderheit ausbreiteten.

Darüber hinaus entwickelt er seine These, dass sich der Holocaust ohne aktive und passive Unterstützung und Mitwirkung durch Regierungen, staatliche Institutionen und Teile der Bevölkerung anderer Länder niemals mit gleicher Geschwindigkeit hätte verwirklichen lassen. Er stützt sich nahezu ausschließlich auf zeitgenössische Quellen und bezieht, was etwa bei seiner Darstellung der Geschichte der Wannsee-Konferenz deutlich wird, den aktuellen Diskurs der Zeitgeschichtsforschung nicht ein.

Im ersten Kapitel "Von der Judenfrage zum Holocaust" entwirft Götz Aly einen zeitlichen Überblick und erklärt sein Vorhaben und seine Arbeitsweise. Er betont, dass er den Schwerpunkt seiner Darstellung auf diejenigen Länder gelegt hat, in denen die meisten Juden lebten und die Zahl der Ermordeten am größten war.

Deshalb verwundert es, wenn er schreibt, dass "etwa 85 Prozent der sechs Millionen, im Holocaust ermordeten Juden aus Polen, Russland, Rumänien, Ungarn und den baltische Staaten (stammten)" und somit weder die Ukraine, wo man von mehr als einer Million ermordeter Juden ausgeht, noch Weißrussland, einer der schlimmsten Schauplätze des Genozids, Erwähnung finden.

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Im zweiten Kapitel "Die Rückkehr der Unerwünschten" wendet sich der Autor zunächst den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu, in denen jüdische Überlebende aus Todeslagern, Verstecken oder dem Exil in ihre ehemalige Heimat zurückkehrten. In beredten Einzelbeispielen beschreibt er die gleichförmigen Erfahrungen der psychisch und physisch beschädigten Heimkehrer, sei es nach Saloniki, Wien, Wilna oder Ungarn.

Ihre Familien und Freunde waren ermordet worden und ihren Besitz hatten sich ehemalige Bekannte oder Nachbarn angeeignet. Die Erretteten waren nirgendwo willkommen, "Millionen Europäer hatten das Verschwinden der Juden gewünscht, zu den Deportationen geschwiegen und von den Hinterlassenschaften der Ermordeten profitiert", kommentiert Aly.

Nicht zuletzt aufgrund von Pogromen und Mordaktionen gegen jüdische Rückkehrer nach Polen und andere Länder Osteuropas verließen Hunderttausende den europäischen Kontinent zumeist in Richtung Israel oder die USA.

Die folgenden Kapitel sind dem Kernthema der Studie gewidmet, der Entwicklung und Zunahme von Hass, Ausgrenzung und Mord außerhalb Deutschlands seit Ende des 19. Jahrhunderts. An den Beispielen Russland, Rumänien, Frankreich und der Vielvölkerhafenstadt Saloniki beschreibt Aly den Beginn des modernen Antisemitismus unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen.

In Russland lebte die größte Zahl Juden, jiddisch sprechend und zumeist in Armut. Antijüdische Gesetze, Drangsalierungen und schließlich immer häufigere und immer grausamere Pogrome führten in den Jahren 1880 bis 1904 zu einer Auswanderungswelle russischer Juden in die USA. Das gleiche galt für Rumänien, wo bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges jeder vierte jüdische Bewohner das Land verließ.

In Frankreich, wo die Juden seit der Revolution im Jahr 1791 Bürgerrechte genossen und gut integriert waren, offenbarte sich im Jahr 1894 mit der Affäre Dreyfus, in der ein jüdischer Offizier fälschlich des Verrats angeklagt wurde, zum ersten Mal ein bösartiger Antisemitismus.

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Mit der Einwanderung von mehreren Zehntausend Juden aus Osteuropa nach Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschärfte sich die Stimmung vor allem gegen die ausländischen Juden und vorwiegend in ländlichen Gebieten.

Es war der Beginn des Weges, der in den 1940er Jahren zur aktiven Beteiligung des französischen Staates insbesondere der Polizeibehörden an der deutschen Mordpolitik führte. Französische Polizei verhaftete die in Frankreich lebenden Juden und trieben sie in die Waggons, die in die Vernichtungslager fuhren. In Saloniki lebten seit der Vertreibung der Juden aus Spanien im 15. und 16. Jahrhundert viele Juden friedlich zusammen mit Vertretern anderer Völker.

Erst im Zusammenhang mit den Balkankriegen und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, als die verschiedenen Minderheiten unter griechische Hoheit gerieten, waren auch die Juden Salonikis Diskriminierung Ausgrenzung und brutalen Mordaktionen ausgeliefert.

Schon während des Ersten Weltkrieges, aber vor allem in den darauffolgenden Jahren, als das Entstehen neuer Nationalstaaten von kriegerischen Auseinandersetzungen und der Transferierung ganzer Bevölkerungsgruppen begleitet wurde, gerieten die Juden in den Ländern Osteuropas immer stärker unter Druck.

Juden galten in Osteuropa nach 1918 oft als Freiwild

In Polen, der Ukraine und im Verlauf des russischen Bürgerkrieges zwischen "weißen" und "roten" Truppen wurden die Juden in immer stärkerem Maße zum Freiwild und Opfer von Raub, Plünderung und Mord. Rumänien beschränkte die Rechte der jüdischen Bürger ebenso wie Litauen oder Ungarn. Überall wurden Pläne und Projekte diskutiert, wie man sich der Juden im eigenen Land entledigen könnte. Gleichzeitig reduzierten die USA die Möglichkeiten der Einwanderung.

Ab dem Jahr 1933 fand die nationalsozialistische Gewaltpolitik gegen die jüdische Minderheit Deutschlands in vielen Ländern Zustimmung und Bewunderung. Aly geht wohl auch im Hinblick auf die aktuelle Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen ausführlich auf den Verlauf der Konferenz von Evian im Jahr 1938 ein. Damals verhandelten auf Einladung der US-Regierung Vertreter von 32 Staaten weitgehend ergebnislos über die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen.

Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880-1945. Verlag S. Fischer Frankfurt 2017, 432 Seiten, 26 Euro. E-Book: 22,99 Euro. (Foto: N/A)

Im Zweiten Weltkrieg realisierten die Deutschen schließlich zumeist mit Hilfe und Unterstützung der verbündeten oder besetzten Länder den Mord an sechs Millionen europäischen Juden.

Aly beschreibt das unterschiedliche Vorgehen der mit Deutschland verbündeten Länder, die zum Teil den Judenmord noch brutaler vorantrieben als die Deutschen, bis der Kampf um Stalingrad den Glauben an den deutschen Sieg erschütterte, was vielerorts zur Verlangsamung oder sogar zum Abbruch der Deportationen führte. Er sieht in zahlreichen Ländern eher sozioökonomische Spannungen als Rassenhass als Motiv für die Beteiligung an der Jagd auf die Juden, überall spielte jedoch die Bereicherung an jüdischem Besitz eine bedeutsame Rolle.

Die unterschiedliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit westlicher Staaten mit den Deutschen bei der Deportation der Juden wird untersucht. Diese hatten weit weniger unter dem Terror der deutschen Besatzer zu leiden als die überfallenen Gebiete der Sowjetunion und Polen. Dort war die Zahl der Ermordeten weitaus am höchsten und die Beteiligung der Bevölkerung und der lokalen Institutionen an den Mordaktionen am intensivsten.

Götz Aly schließt seinen Parforce-Ritt durch die Geschichte mit einer Schlussbetrachtung, in der er die sich verbreitende ethnische Säuberungspolitik als einen Strang der Vorgeschichte des Holocaust einordnet. Seiner abschließenden Überlegung, dass der zivilisatorische Fortschritt den Zivilisationsbruch begünstigte, muss man nicht folgen.

Barbara Distel war von 1975 bis 2008 Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau. Sie beschäftigt sich noch immer mit der Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen.

© SZ vom 27.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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