Hartz-IV-Empfänger:Der neue Paternalismus

Bevormundung durch Gutscheine und Kontrollen: Auch wenn sie ihr Geld für Kippen und Korn verpulvern - wie Sozialhilfeempfänger leben, geht den Staat nichts an. Doch wie es ihren Kindern geht, ist sehr wohl seine Sache.

Felix Berth

Der liberale Professor Viktor Böhmert beschrieb im Jahr 1890, was die Sozialpolitik vermeiden müsse. Er warnte vor "Geldalmosen" für die Ärmsten. Sie seien "Gift für arbeitskräftige Menschen" und würden schnell "zu einem Ruhekissen, auf welchem die Liebe zur Selbstständigkeit, die Lust an der Arbeit und zur Selbsterhaltung einschlummern". Deshalb gab Böhmert allen Helfern den Rat: "Ein Armenpfleger muss im Geben vorsichtig, in der Pflege geduldig und in der Überwachung streng sein."

Stuttgarter Familiencard könnte Schule machen

Sachleistungen statt Geld für Hartz-IV-Empfänger? Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) prüft die Einführung von Bildungs-Chipkarten für Kinder aus Hartz-IV- Familien. Der wiederaufladbare Chip soll ihnen den Zugang zu zusätzlichen Bildungsangeboten wie Musik- oder Sportkursen ermöglichen, aber auch den Besuch von Schwimmbädern, Museen und Theatern.

(Foto: dpa)

Hätte man diesen Satz vor dreißig Jahren zitiert, wäre allseitige Empörung gewiss gewesen. Im Geben vorsichtig? Schon per Gesetz steht jedem Armen staatliche Hilfe zu. In der Pflege geduldig? Das klingt doch zu wenig nach

Kooperation. In der Überwachung streng? Also bitte, Freiheit ist immer auch die Freiheit des Sozialhilfeempfängers - der Staat hat sich mit Kontrollen zurückzuhalten.

Inzwischen scheint sich, wenn nicht alles täuscht, die Bundesrepublik dem Paternalismus des Viktor Böhmert wieder zu nähern. Viele Politiker erwägen derzeit, Kindern keine neuen "Geldalmosen" zu geben, sondern "Sachleistungen", wie das nun heißt. Und strenge Kontrollen sind ebenfalls wieder erwünscht - sie sollen zum Beispiel klären, ob zwei Hartz-IV-Empfänger zusammenleben. Da überprüfen schon mal Kontrolleure, ob in einem Badezimmer zwei Zahnbürsten stehen. Dann haben sie eine "Bedarfsgemeinschaft" entdeckt, und den Ertappten stehen ein paar Euro weniger zu.

Hilfe anbieten, Übergriffe vermeiden

Solcher Paternalismus ist absurd, solange es um Erwachsene geht. Ob jemand "Lust an der Arbeit" verspürt, ist Privatsache, keine Staatsangelegenheit. Und wofür ein Mensch, der seit drei Jahren arbeitslos ist, seinen Regelsatz ausgibt, hat den Staat nicht zu interessieren. Zur Freiheit des Volljährigen gehört die Freiheit, sich Schaden zuzufügen - solange er nicht andere schädigt. Der Staat kann Hilfe anbieten; ansonsten muss er sich darauf beschränken, Übergriffe zu vermeiden: Wenn ein Mann seine Stütze für Kippen und Korn ausgibt, mag das nicht allen gefallen - doch solange er seine Mitmenschen nicht gefährdet (oder selbst erkennt, dass er Hilfe nötig hat), ist er kein Fall für die Beamten.

Ganz anders ist es, wenn Kinder betroffen sind. Sie sind in der Abhängigkeit von den Eltern kaum fähig, sich selbst zu schützen - auch dann nicht, wenn ihre Eltern ein großes Risiko für sie sind. Und es gibt einige Anzeichen dafür, dass die Zahl dieser Gefährdeten ziemlich groß geworden ist. Davon erzählen zum Beispiel Lehrer in den Armutsquartieren der Städte: Jeder dort trifft Jungen und Mädchen, die zwar einen Fernseher, aber keine warme Winterjacke besitzen. Und jeder dieser Lehrer beobachtet im Sportunterricht, dass gerade Kinder aus armen Familien häufig zu dick sind. Sie kennen den Speiseplan des nahen Fastfood-Lokals auswendig, schaffen aber keinen Purzelbaum mehr.

Im Interesse der Kinder ist ein neuer Paternalismus angemessen. Wenn sie demnächst in den Schulen dank einer neuen Chipkarte der Sozialämter ein halbwegs gesundes Mittagessen bekommen, ist das richtig. Zwar klingen bei den Befürwortern die Vorbehalte gegenüber den "Geldalmosen" wieder an - doch der Nutzen für den Nachwuchs wiegt schwerer als die Bedenken gegen den Eingriff in Erziehungsrechte und Konsumfreiheit der Eltern. Außerdem wird politisch diskutierbar, was bisher kaum interessierte: Wie viel Lernförderung brauchen diese Kinder? Wie viel soll der Staat für ihr Mittagessen ausgeben, wie viel Sport und Musikschule sind wichtig und richtig?

Wer diese Fragen stellt, ahnt, dass es bei der halben Milliarde nicht bleiben wird, die bisher für Korrekturen der Hartz-Gesetze vorgesehen sind. Und: Wer will, dass der Staat diese Kinder stärker unterstützt, sollte nicht jammern, wenn Sozialpolitik teurer wird als bisher. Denn Paternalismus ist nicht billig.

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