Süddeutsche Zeitung

Hartz IV: Anzeige gegen Westerwelle:"Ich fiel plötzlich in ein Loch"

Hartz-IV-Empfänger Gunther Clemens zeigte den Vizekanzler wegen Beleidigung an. Bis heute kämpft er mit den Folgen.

Patrizia Barbera

Leise und unsicher klingt Gunther Clemens gut vier Wochen nach der Anzeige gegen FDP-Chef Guido Westerwelle. "Das nimmt mich psychisch alles total mit", sagt der 42-Jährige. Der Hartz-IV-Empänger hatte Strafanzeige gegen den Außenminister und Vizekanzler gestellt, weil er sich durch dessen Äußerungen zu Hartz IV persönlich beleidigt gefühlt hatte und dies in einem Interview mit sueddeutsche.de begründet.

Westerwelle hatte sich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Hartz-IV-Satz für Kinder über die "spätrömische Dekadenz" echauffiert, die seiner Ansicht nach unter deutschen Empfängern von sozialen Hiflsleistungen herrsche. Gunther Clemens, der seit Jahren aus gesundheitlichen Gründen auf diese Hilfestellungen angewiesen ist, sich aber nebenbei um Arbeit bemüht, findet dies empörend.

Durch gesundheitliche Probleme in der Hartz-IV-Falle

Denn Gunther Clemens war nicht immer auf Hartz IV angewiesen. Der Mann aus Leer war viele Jahre als selbständiger Möbelschreiner tätig, nebenbei betrieb er einen Kurierdienst. "Die Geschäfte liefen gut - allerdings habe ich den Fehler gemacht, mehr als 50 Prozent der Aufträge von einem einzigen Kunden zu übernehmen. Als der Pleite ging, riss er uns mit in den Ruin", erinnert sich Clemens.

"Das war eine große seelische Belastung, dann kamen gesundheitliche Probleme dazu und schon war ich in der Hartz-IV-Falle." Bandscheibenvorfälle, Knieprobleme und Migräne führten dazu, dass Clemens eine Umschulung zum Reiseverkehrskaufmann abbrechen musste. Hartz IV war für den Niedersachsen die letzte Möglichkeit, sich und seine Familie zu versorgen.

Denn auch seine Frau ist neben ihrem 400-Euro-Job bei einem Discounter auf Hartz IV angewiesen. "Es ist wirklich schwer, über die Runden zu kommen", sagt Clemens und erzählt von den vielen Wünschen, die er seiner 15-jährigen Tochter abschlagen muss. Die würde gerne mal in den Urlaub fahren, "aber eigentlich reicht es immer nur für Balkonien", seufzt er.

Die Familie lebt in einem kleinen Einfamilienhaus. Das wenige Geld, das am Ende des Monats übrig bleibt, legt Clemens lieber für die Zukunft seiner Tochter auf die Seite: "Sie möchte ihr Abitur machen und Fotografie oder Grafikdesign studieren. Um ihr das zu ermöglichen, würde ich auf fast alles verzichten."

Das Gefühl, sich ständig einschränken zu müssen, hatten viele der Hartz-IV-Empfänger, die auf Clemens nach seiner Anzeige zukamen. Mehr als 200 Zuschriften erhielt der Hartz-IV-Empfänger: "Rührende Sympathieerklärungen, die mich zum Weinen brachten." Ein älterer Mann habe ihm von seinem eigenen Schicksal und den Erfahrungen mit Hartz IV erzählt und den Brief mit Schornsteinfeger-Stickern übersät - als Glücksbringer für die Anzeige gegen Westerwelle.

Viele Betroffene bedauerten, nicht selbst den Mut zur Anzeige gehabt zu haben, sagt Clemens. "Ich wollte aber etwas verändern. Also habe ich aufgehört, mich zu ärgern und Anzeige erstattet", erinnert sich der 42-Jährige. Doch das hatte nicht nur positive Folgen.

Das enorme mediale Interesse an seiner Person war Clemens zunächst nicht geheuer: "Am ersten Tag war ich ganz zittrig und musste erst mal runterkommen. Psychisch nimmt einen das schon mit und abends fiel ich plötzlich in ein Loch." Fernsehteams, Zeitungen, Radiosender - sein Telefon klingelte ununterbrochen. Auch vier Wochen nach der Anzeige wird über Clemens fast täglich in der lokalen und überregionalen Presse berichtet.

Freunde und Familie reagierten durchweg positiv auf das mediale Interesse an Clemens Anzeige gegen FDP-Chef Westerwelle. Nicht so die Vorstandsmitglieder des Kreiselternrats, in dem Clemens seit drei Monaten den Vorsitz innehatte.

Erzwungener Rücktritt vom Ehrenamt

"Herr Clemens hat bei seiner Anzeige zwar als Privatperson gehandelt, aber immer wieder seine Verbindung zum Kreiselternrat erwähnt, das ist für uns inakzeptabel", betont der Zweite Vorsitzende Ingo Heynen im Gespräch mit sueddeutsche.de. Mit einer Anzeige gegen einen hochrangigen Politker wollten sich die Vorstandsmitglieder nicht identifizieren: "Wir sitzen oft mit Kommunalpolitikern an einem Tisch, das ist doch peinlich, wenn einer von uns den Vizekanzler angezeigt hat", gibt Heynen als weiteren Grund an, Gunther Clemens den Rücktritt nahegelegt zu haben.

"Ich stand vor der Wahl: Entweder ich gehe oder die anderen vier Vorstandsmitglieder. Was sollte ich denn machen?", sagt Clemens. Da er die Arbeit des Elternrats durch lange Abstimmungen nicht unnötig belasten wollte, resignierte der 42-Jährige und legte sein Amt nieder. Aber die Enttäuschung über den erzwungenen Rücktritt sitzt tief.

Clemens war sehr stolz auf sein ehrenamtliches Engagement und wollte ein positives Beispiel setzen: "Ich möchte zeigen, dass Hartz-IV-Empfänger nicht Bürger dritter Klasse sind und sich verstecken müssen."

Von Guido Westerwelle erhofft sich der Familienvater ein ernstgemeintes Engagement, um die Situation von Wenigverdienern in Deutschland zu verbessern. Mit der Anzeige beschäftigen sich nun die Justizbeamten. "Wir haben den Vorgang an die Staatsanwaltschaft in Berlin weitergegeben, die dies nun prüft", sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Aurich zu sueddeutsche.de.

Gunther Clemens steuert derweil schon das nächste große Projekt an. Er will die Zuschriften und Schicksale der Hartz-IV-Empfänger für etwas Positives nutzen - und schreibt ein Buch.

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