Happy slapping und Snuff-Videos:Bilder von enormer Schlagkraft

Sie filmen, wie sie sich prügeln, und sie prügeln sich, um es zu filmen. Auf Schüler-Handys wird alltäglich Gewalt inszeniert und konsumiert.

Cathrin Kahlweit

Es war nur eine kleine Prügelei gewesen, mehr Zuschauer drumherum als Schläger im Kreis. Nichts Besonderes einerseits, auf jedem Schulhof der Welt prügeln sich Kinder.

Happy slapping Gewalt Schule Schüler Handy

Happy Slapping ist für manche Schüler schon Normalität

(Foto: Foto: Internet)

Und doch war dies hier etwas Ungewöhnliches, denn diese Prügelei hatte etwas von Filmaufnahmen: Zwei schlägern auf Verabredung los, die Runde johlt, acht nehmen das Geschehen mit dem Handy auf.

Marcus Lüpke ist ein lockerer Typ, Sportlehrer in Jeans und Sweatshirt, die Kinder mögen ihn. Lüpke ist nicht leicht zu schocken. Damals aber war er fassungslos.

Er hatte Aufsicht auf dem Pausenhof der Alfred-Teves-Hauptschule im niedersächsischen Gifhorn, er rannte hin, um die Jugendlichen zu stoppen, zog die Handys ein, dann sah er sich die Filmchen an, die dort gespeichert waren.

Horrorkino aus dem realen Leben

Er fand Horrorfilme, moderne Klassiker der besonders ekligen Art, die auf deutschen Schulhöfen und aus deutschen Kinderzimmern verschickt und getauscht werden wie früher Fußballbilder für das Sammelalbum: Ein Soldat war da zu sehen, mutmaßlich ein russischer.

Er liegt auf dem Boden, das Gesicht zur Seite gewendet. Jemand setzt ein riesiges Messer an und beginnt in aller Seelenruhe, ihm die Kehle durchzusägen. Das Video dauert etwa zweieinhalb Minuten.

Snuff-Video heißt so etwas, Horrorkino aus dem realen Leben. Eine Hitliste von etwa 20 bis 30 besonders populären Filmen dieser Machart kursiert in Deutschland, wöchentlich kommen neue dazu, für jugendliche Profis leicht herunterzuladen aus dem Netz der Millionen Möglichkeiten.

Das irritierte Lüpke, aber Pädagogen, die nicht auf dem Mond leben, schockt so etwas nicht mehr. Fassungslos machte ihn ein zweiter Fund: Ein lokal produziertes Filmchen mit einem stadtbekannten Obdachlosen in der Hauptrolle.

"Das macht man eben"

Der Mann wurde von ein paar Schülern vor dem Schulgelände hin und her gejagt, bis er sich panisch in eine Telefonzelle flüchtete. Quälereien vor der Kamera, Quälereien für die Öffentlichkeit.

Er zwang Max, den 15-Jährigen mit dem Kindergesicht und dem Männerkörper, seinen aus Syrien stammenden Freund Fawas, Ömer aus Kurdistan und all die anderen, die auf dem Hof herumstanden, die Clips von ihren Handys zu löschen.

Die Jungen taten das, aber Lüpke erntete erst einmal vor allem Schulterzucken nach dem Motto: Na und, was ist dabei? Max fand die Mördervideos, die er sich mit seinen Kumpels ansah, nicht sonderlich aufregend.

"So was anzuschauen, ist normal, das macht man eben." Und warum macht man das? "Naja, jeder hat was, für das er sich interessiert. Wer so was guckt, der will wissen, wie das geht."

Fawas sekundiert, nuschelnd und leicht geniert: "Das war doch nur Spaß." Bei der Jagd auf den Obdachlosen waren sie nicht dabei, sagen sie, und von den Jägern ist ohnehin niemand zu erkennen.

Ganz normale Teenager

Lüpke machte eine Umfrage unter seinen Schülern, 36 hatten die Filme gesehen, 13 von 42 sagten, sie hätten sich schon mal für die Handy-Kamera geprügelt. Nette Jungs, die allermeisten jedenfalls.

Und die Alfred-Teves-Hauptschule ist keine Brennpunktschule. Ganz normale Teenager, normaler Jugendalltag, engagierte Pädagogen, Gewalt ist eher die Ausnahme auf diesem Schulhof.

Happy slapping - so heißt im Szenejargon die absonderliche Mode, mit der Handykamera Misshandlungen aufzunehmen, die man selbst begeht. Happy slapping, fröhliches Dreinschlagen, wird häufig nicht als Gewaltakt wahrgenommen, die Opfer werden nicht als Opfer angesehen, sondern eher als Kleindarsteller, oft kommen sie zufällig des Wegs, sind zur falschen Zeit am falschen Ort.

Slappen ist eine Art kollektives Freizeitvergnügen. "Es tut gut, irgendwelche Leute zu verhauen, außerdem macht es Spaß", ist in einem Chatforum im Internet zu lesen, und: "Auch wenn es denjenigen, die verhauen werden, wahrscheinlich wehtut, ist es witzig, als ob man einen Sketch im Fernsehen sieht."

Jeder zehnte Gewaltfall wird gefilmt

Der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer hat bei einer Umfrage unter Jugendlichen in Hannover erfahren, dass in jedem zehnten Fall von Jugendgewalt auch gefilmt wurde. Das ist nicht dramatisch, aber symptomatisch.

Horrorvideos anzusehen ist eine Sache. Frühere Generationen haben das auch gemacht, nur war das inkriminierte Material nicht so leicht verfügbar. Den Kick gibt: selber machen.

Bilder von enormer Schlagkraft

Happy slapping ist so neu nicht, aber lang unbemerkt geblieben in einer Erwachsenenwelt, die sich vielleicht noch vorstellen kann, dass man als Teenager besonders cool ist, wenn man es aushält, Hinrichtungen, Steinigungen, Amputationen, Verbrennungen anzuschauen. Die Erwachsenenwelt mag sich aber nicht vorstellen, dass Kids jetzt selbst das Casting übernehmen, die Location suchen und Regie führen.

Die Ursprünge des Happy slapping kommen aus England: Leute gehen die Straße entlang, sprechen einen Passanten an, schlagen unvermutet auf ihn ein, gehen weiter, als sei nichts gewesen. Dies und anderes wird in Deutschland nachgespielt. Wie oft? Keiner weiß es, die Dunkelziffer ist hoch.

Jugendlicher musste Zigaretten essen

Hildesheim hatte einen ersten, bundesweiten Schock ausgelöst. Elf Jugendliche einer Berufsschule hatten einen Mitschüler grausam gequält: Er musste Zigaretten essen, masturbieren, seinen Peinigern die Schuhe küssen.

Kurz darauf ging die bayerische Hauptschule Walpertskirchen durch die Presse, auch dort wurde ein Schüler monatelang gequält. Wie in Hildesheim sollten die digitalen Bilder ins Internet gestellt werden, die naiven Jungen hofften, man könne mit sowas Geld machen.

Meist sind es ein paar Schläge, ein paar Tritte vor der Kamera, aber auch drastischere Fälle werden bekannt, immer häufiger ermittelt die Polizei. Köln: Eine Jugendbande verletzt schwache und kranke Menschen und nimmt die Quälereien auf. Berlin: Ein Mädchen wird von 15 Mitschülern zusammengeschlagen, die Misshandlung wird gefilmt.

Krefeld: Zwei Jugendliche rammen einem alten Mann einen Einkaufswagen in die Knie, bis er zu Boden geht, schlagen ihn, filmen das Ganze. Bockenem: Eine Schülergruppe schlägt an einer Bushaltestelle auf Wartende ein, malträtiert aber auch regelmäßig Mitschüler - und zeigt die Filme auf dem Pausenhof herum.

Ein besonders aufsehenerregender Fall ereignete sich in München: Drei Schüler einer internationalen Schule ziehen ein sturzbetrunkenes 14-jähriges Mädchen aus, missbrauchen es mit einer Champagnerflasche und bemalen ihren nackten Körper mit obszönen Sprüchen. Immer dabei: die Handy-Kamera.

Wahr ist, was im Netz ist

Es ist diese Schnittstelle von Jugendgewalt und Mediennutzung, an der sich Polizei und Forschung derzeit mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination abarbeiten.

Denn beim Slappen beweist sich, wie eine wachsende Zahl von Jugendlichen tickt, und nein, es sind nicht nur die Problemkinder, die, dem Klischee entsprechend, die Schule abgebrochen haben und ihre Tage vorwiegend vor dem Computer verbringen. Auch an Gymnasien in Reichen-Vierteln werden solche Filme getauscht, wird gefachsimpelt, wer was hat, und wer was kennt.

Das ist Regel Nummer eins im Zeitalter des World Wide Web: Nur was im Netz zu sehen ist, ist wahr; nur wer sich in der virtuellen Welt seinen virtuellen Bewunderern präsentieren kann, wird gesehen.

Harmloses Indiz dafür sind die millionenfach verbreiteten persönlichen Webseiten von Kindern, die doch nicht mal genug Biographie haben, um ein halbes Blatt Papier mit Lebensdaten füllen zu können.

Ein Indiz dafür ist auch der anwachsende Kommunikationslärm im Netz aus Chatrooms und Internetadressen wie youtube und myvideo, auf denen man am Leben der anderen teilnehmen kann.

"Gefühl von tödlicher Langeweile"

Selbst wenn man sie gar nicht kennt. Die Grenzen verschwimmen - von der guten, alten "Versteckten Kamera" ist der Weg kurz gewesen zur Selbstdarstellung und zur Entblößung Fremder im Netz.

Kurzclips sind also angesagt, am besten spektakulär und gern gemein, mit denen die Realität ins Netz geholt wird, um zu zeigen: Ich habe etwas hinterlassen, ich bin wer. "Ich will berühmt werden", sagte ein junger Happy slapper mit fröhlicher Naivität in die Kamera einer NDR-Reporterin.

Der Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann, der sich sowohl mit Jugendgewalt als auch mit Medien auskennt, sucht nach einer Erklärung: Als Täter könne man der Welt zeigen, wozu man in der Lage sei, mutmaßt er, und damit das Gefühl steigern, etwas wert zu sein.

"Viele leiden unter dem Gefühl von tödlicher Langeweile", sagt Hurrelmann, und das eben sei das Motiv für solche scheinbar motivlose Taten: "Meist ist bewusst einkalkuliert, wie spektakulär eine Gewalthandlung sein muss, um Aufsehen zu erregen."

Es zählt der Ekelfaktor

Selbst der Amoklauf von Emsdetten war im Netz angekündigt - damit auch ja niemand Tat und Täter übersehen würde. Auch hier ist sie wieder erkennbar - die Schnittstelle zwischen Jugendgewalt und Mediennutzung: handeln, um gesehen zu werden, im realen Leben oder in jenem anderen, das immer realer wird.

In der Nähe von Hof, an der ehemaligen Zonengrenze, lebt zum Beispiel Alex, 16 Jahre alt. Er bleibt lieber anonym, seine Kumpels mögen es nicht, dass er erzählt, wie die Snuffs, die echten Ekelfilmchen, entstehen, die seine Freunde und er herstellen. Alex kennt sich aus. Je höher der Ekelfaktor des eigenen Films, desto höher die Anerkennung bei Kennern.

Der Realschüler erzählt, wie man mobben kann, ohne sich persönlich aus der Deckung zu wagen: zum Beispiel in der Schultoilette heimlich Mädchen beim Pinkeln aufnehmen und den Clip dann auf dem Schulhof rumzeigen.

Die gepeinigten Opfer werden so schnell keine öffentliche Toilette mehr benutzen. Beliebt, sagt Alex, der vielleicht ein bisschen angibt, aber insgesamt durchaus glaubwürdig wirkt, sei es derzeit auch, mit einem Mädchen ins Bett zu gehen, es beim Orgasmus oder von hinten zu filmen und das Video dann per Schneeballsystem in der Schule zu verbreiten - eine besonders perfide Form von Mobbing.

Bilder von enormer Schlagkraft

"Schlampenvideos" heißen diese Filme in seiner Clique. Je mehr Schlampenvideos, desto cooler. Wer keine ins Bett bekomme und nicht als Verlierer dastehen wolle, der helfe auch mal mit Gewalt nach, berichtet Alex, auf dem Handy-Film sei die sexuelle Nötigung vom freiwilligen Sex schließlich nicht zu unterscheiden.

Feste Regeln hat das gemeinsame, gemeine Spiel: Wer schlau ist, nimmt so auf, dass er selbst nicht erkennbar ist. Dann wird eine SMS herumgeschickt, die auf eine bestimmte Webseite zu einer bestimmten Uhrzeit verweist.

Die Kumpels und alle Bekannten der Kumpels und alle Bekannten der Bekannten, bei denen die SMS angekommen ist, schalten um diese Zeit ihren PC ein, schauen sich das Video an, Minuten später ist es gelöscht, der Verursacher aus dem Netz verschwunden - und er hat in der Szene gepunktet.

Demütigende Bilder gehen um die Welt

Um Razzien der Polizei oder der Schule zu entgehen, haben viele Jugendliche eine zweite Speicherkarte. Wird ihr Handy kontrolliert, sind alle Ordner leer oder mit harmlosem Material gefüllt, der harte Stoff ist auf der anderen Karte.

"Cyberbullying" heißt Mobbing per Foto oder Video bei der Polizei, der solche Praktiken große Sorgen machen. In der Fachzeitschrift Deutsche Polizei erschien vor wenigen Monaten ein langer Aufsatz unter dem Titel "Cyberbullying - eine neue Form der Gewalt".

Die Definition des Autors und Kriminologen Frank Robertz: "Verletzung und Belästigung von Personen mittels Nutzung neuer Informations- und Kommunikationsmethoden". Seine Analyse: Das Phänomen verbreitet sich rasant und weltweit.

Neu sei dabei nicht etwa die Erniedrigung von Schwächeren, etwa von Mitschülern; "Fettsäcke" und "Spackos", die auf dem Schulhof aufgezogen wurden, habe es schließlich immer gegeben.

Robertz warnt vielmehr vor der Grausamkeit, der Unausweichlichkeit, die dem neuen Trend anhaftet: Wer früher gemobbt wurde, für den sei wenigstens an der Haustür Schluss gewesen. Heute würden die Bilder solcher Demütigungen veröffentlicht, von der ganzen Welt gesehen - und auf Festplatten gespeichert.

Für die Opfer ist das vor allem deshalb schlimm, weil ihr Leiden sich so verlängert. Über die Täter wird viel geforscht, auch und gerade da, wo es um Jugendkriminalität geht. Ob Jugendgewalt tatsächlich zunimmt, ist Ansichtssache.

Die Rohheit nimmt zu

Die einen, etwa Hamburgs Innensenator Udo Nagel, schockieren mit nackten Zahlen: Nagel sagte auf einem Symposium vergangene Woche in Hamburg, die Zahl jugendlicher Gewalttäter sei seit 1993 um hundert Prozent gestiegen.

Der Kriminologe Christian Pfeiffer argumentiert, alles in allem stagnierten die Zahlen der Jugendkriminalität entgegen der allgemeinen Wahrnehmung; und dort, wo sie ansteigen, etwa bei Gewalttaten, da sei auch die Anzeigehäufigkeit gestiegen, die Aufmerksamkeit, die Aufklärungsquote.

Dass aber die Rohheit bei jenen zunimmt, die zuschlagen, dass mehr, härter und mitleidloser ausgeteilt wird, das beobachten Polizei und Psychologen gleichermaßen.

Klaus Hurrelmann, der Erziehungswissenschaftler aus Bielefeld, denkt vor allem an die Opfer, wenn er eine Erklärung dafür sucht, warum so oft nach dem Zufälligkeitsprinzip zugelangt wird.

Der Ehrenkodex hat sich geändert und damit das Verhältnis zwischen Opfer und Täter." Es gebe keine Regel mehr, die das Opfer schütze, sein Schicksal spiele keine Rolle mehr. Wie auch, fragt er, wo doch der Mensch, der malträtiert werde, "in einer Mischung aus Kurzschluss und psychischem Ausnahmezustand nicht mehr als Mensch wahrgenommen wird?".

Heute gehe es selten darum, die Missetat eines anderen zu vergelten, sich für eigenes Unrecht zu rächen. Der Mensch, der auf der Straße, in der Schule geprügelt werde, sei in der Wahrnehmung der Täter "ein virtueller Mensch".

Eine neue Sehgewohnheit

Der renommierte Kinderpsychiater an der Heckscher-Klinik, Franz Joseph Freisleder, weiß: "Spiele, Filme, Videos machen vor, dass erfolgreich ist, wer Gewalt anwendet". Hurrelmann nennt das "Realitätsverblendung".

In Bayern ist die Handynutzung an Schulen verboten, an vielen Schulen im Rest der Republik mittlerweile auch. Ob es hilft? Marcus Lüpke, der nette Sportlehrer aus Gifhorn, hat da so seine Zweifel.

Er setzt auf mediale Erziehung, auf Aufklärung und Sensibilisierung. Nach der Razzia und dem ersten Schreck organisierte er einen Elternabend mit Anwesenheitspflicht und zeigte den Eltern die Videos, die ihre Kids so anschauen, alle, auch die ganz blutigen.

Manche Mütter und Väter hatten Tränen in den Augen, von anderen erntete er - Schulterzucken. Sie sagten, sie hätten das alles schon gesehen, das sei Sache ihrer Kinder. Seither kamen nicht mehr viele Nachfragen von den Erziehungsberechtigten; man vertraut auf die Pädagogen.

Die Schule hat eine Arbeitsgemeinschaft für Medienkompetenz eingerichtet und Gewaltprävention zum Lernstoff gemacht. Sie hat das Thema Handy-Gewalt öffentlich gemacht und, zu Recht, viel Lob dafür bekommen.

Lüpke, seine Schüler Max, Fawas und Ömer klären jetzt andere Teenager darüber auf, wie man Computer und Handys auch sinnvoll nutzen kann, für eine Schülerzeitung zum Beispiel oder zum Komponieren.

Und Max sagt, er könne brutale Videos, auf denen geköpft und geschossen, amputiert und verbrannt werde, heute nicht mehr anschauen. "Ich frage mich dann immer, wie sich das Opfer fühlt." Hoffentlich hält der Zustand eine Weile an.

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