SZ.de: Seit 1930 war der Kardinalstaatssekretär Pacelli oberster Diplomat des Vatikan. Wie verhielt er sich nach 1933, als die deutschen Juden entrechtet und verfolgt wurden - und die Expansionspläne Hitlers offenkundig wurden?
Küng: Pacelli schwieg. Er unterließ es als Kardinalstaatssekretär, gegen die Nürnberger Rassegesetze von 1935 zu protestieren, er wandte sich nicht gegen das Reichspogrom von 1938 und den Überfall des faschistischen Italien auf Äthiopien 1935/36. Als Papst kritisierte er nicht die Invasion Italiens in Albanien an Karfreitag 1939. Und, was ihm die Polen schwer übel genommen haben: Er prangerte nicht den verbrecherischen Angriff von Hitlers Wehrmacht auf Polen an, den Beginn des Zweiten Weltkrieges.
SZ.de: Allerdings versuchte er noch wenige Tage vor Kriegsausbruch zu vermitteln.
Küng: Pius war immer für den Frieden, das will ich nicht bestreiten. Man kann ihn auch nicht billig auf die Schiene des Rüstungs- und Finanzprofiteurs schieben, so wie ihn Hochhuth darstellt. Aber er sah den Kampf der Nazis als Abwehr des Kommunismus. Hitler war für ihn im Vergleich zu Stalin das kleinere Übel. Seinen Kampf gegen den Kommunismus führte Pacelli auch nach 1945 fort. Da hat er Katholiken mit kommunistischem Parteibuch weltweit exkommuniziert. Aber vorher hat er es unterlassen, die formalen Katholiken in der NS-Führung - Hitler, Himmler, Goebbels und andere - zu exkommunizieren.
Pius XII. an seinem 80. Geburtstag 1956.
(Foto: AFP)SZ.de: Nach dem Krieg zeigte er sich nicht als geläuterter Papst, der falsch gehandelt hatte.
Küng: Das war im Grunde auch das Schlimme. Schon deshalb ist er bestimmt kein Heiliger. Pius hat nie ein Schuldbekenntnis abgelegt, dass er wesentlich mehr hätte tun können. Natürlich weiß man, dass er sich mit diplomatischen Demarchen für die Rettung von Juden eingesetzt hat. 1942 und 1943 hielt er auch zwei Ansprachen, wo er kurz über das Schicksal der "unglücklichen Leute" klagt, die um ihrer Rasse willen verfolgt würden. Aber das Wort "Jude" nahm er nie öffentlich in den Mund.
SZ.de: Pius starb 1958. Wenige Jahre später fand das Zweite Vatikanische Konzil statt, die Kirche erneuerte sich. Gibt es heute noch spürbare Nachwirkungen von Pius' Pontifikat?
Küng: Man fragt sich, ob sich die Kurie in diesen Tagen nicht wieder auf den Spuren von Pius XII. bewegt: Zentralistisch, autoritär, inquisitorisch - und nicht ökumenisch, weltoffen und tolerant, wie es Pius' Nachfolger Johannes XXIII. gewollt hat.
SZ.de: Nimmt Papst Benedikt XVI. Anleihen beim umstrittenen Vorgänger?
Küng: So viel ich weiß, hat er nie direkt auf Pius XII. Bezug genommen. Aber er bewundert ihn sicher auch auf seine Weise. Bei unserem Treffen in Castel Gandolfo sprachen wir als Erstes über Pius XII., weil ich ihn 1948 am selben Ort aus der Nähe erlebt habe.
SZ.de: Derzeit läuft das Verfahren von Pius' Heiligsprechung. Welche Folgen hätte die Erhebung zur "Ehre der Altäre"?
Küng: Die Heiligsprechung von Pius XII. würde die Kanonisierung seiner kirchlichen Innen- und Außenpolitik sowie seines Pontifikatstiles bedeuten. Solcher kirchenpolitischer Missbrauch ist leider möglich, wenn ich daran denke, wie Pius XII. 1954 seinen Vorgänger Pius X. (Pontifikat 1903 bis 1914, Anm. d. Red.) heiliggesprochen hat. Pius X., das war der Antimodernisten-Papst und geistiger Vater der heutigen Pius-Brüder.
Eine Heiligsprechung von Pius XII. wäre eine vatikanische Farce - und eine Desavouierung der Schuldbekenntnisse von Johannes Paul II. Ich kann Ihnen auch noch einen Kronzeugen nennen gegen eine Heiligsprechung von Pius ...
SZ.de: ... wen meinen Sie?
Küng: Einen, der wohl besser als andere berechtigt war, zu urteilen: Pius' Privatsekretär Robert Leiber, SJ (Societas Jesu, Gesellschaft Jesu / Jesuiten; Anm. d. Red.). Meine damaligen Mitbrüder vom Collegium Germanicum und ich fragten ihn, ob der Papst ein Heiliger sei. Leiber antwortete ganz entschieden: "Nein, ein Heiliger ist er nicht, aber ein großer Mann der Kirche." Das ist, denke ich, die zutreffende Einschätzung: Pius XII. war ein bedeutender Mann der Kircheninstitution. Er verdient eine gerechte Beurteilung, aber keine Heiligsprechung.