Hans-Jochen Vogel zur Lage der SPD:"Wir müssen Heimat ernster nehmen"

München Interview mit Hans Jochen Vogel im Augustinum DJS 06 03 16

Hans-Jochen Vogel: "Momentan neige ich zu einer Minderheitsregierung"

(Foto: imago/Oliver Bodmer)

SPD-Veteran Hans-Jochen Vogel über den Niedergang der Sozialdemokratie, über Fehler von Schulz und Merkel, seine Enttäuschung über Lafontaine - und welche Regierungsoption er seiner Partei jetzt empfiehlt.

Interview von Lars Langenau und Oliver Das Gupta

Hans-Jochen Vogel, 91, prägte als Oberbürgermeister München (1960 bis 1972) und die sozialliberale Koalition als Bau- und Justizminister (1972 bis 1981). Später war er Regierender Bürgermeister von West-Berlin, SPD-Kanzlerkandidat und Parteichef, den Fraktionsvorsitz übernahm er 1983 vom legendären Herbert Wehner.

SZ: Herr Vogel, haben Sie noch den Zettel von Herbert Wehner, auf dem steht "Trotz alledem: weiterarbeiten und nicht verzweifeln"?

Hans-Jochen Vogel: Ja, den gibt es noch. Wehner gab ihn mir am 7. Februar 1981, also wenige Tage nachdem ich Regierender Bürgermeister von West-Berlin geworden war. Die CDU hatte damals mit der Alternativen Liste, der Vorläuferin der Grünen, schon ein Bürgerbegehren für Neuwahlen eingeleitet. Ich habe der Neuwahl zugestimmt, aber dann die Wahl im Mai 1981 verloren. Nicht zuletzt deshalb habe ich danach an Männer und Frauen, die sich in schwierigen Situationen befanden, Kopien von Wehners Satz verschickt.

Ist die Verzweiflung in der SPD damals mit der Stimmung von heute vergleichbar?

Langsam! Mit der Berliner SPD erreichte ich damals noch um die 38 Prozent. Heute ist die Situation zwar deutlich schwieriger. Aber Verzweiflung? Verzweifelt sind die Sozialdemokraten noch nicht einmal in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Vielmehr haben sie dem heraufziehenden Unheil entschiedenen Widerstand geleistet und am 23. März 1933 mit der historischen Rede von Otto Wels die Ehre der Demokratie gerettet. Was zutrifft: Wir haben in den vergangenen Jahren an Zustimmung verloren. Das ist allerdings auch den Sozialdemokratien in anderen EU-Ländern widerfahren.

Woanders in Europa sind die SPD-Schwesterparteien teilweise marginalisiert. Halten Sie es für möglich, dass die deutsche Sozialdemokratie bei Wahlen unter zehn Prozent landen könnte?

Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Schließlich gibt es vielfältige Möglichkeiten, dies zu verhindern. Für wahrscheinlicher halte ich es deshalb, dass wir uns wieder nach oben bewegen.

Was kann die SPD tun, damit es wieder bergauf geht?

Die Lage und die Herausforderungen klar wahrnehmen. Zur Lage gehört, dass es uns wirtschaftlich gut geht: Im internationalen Vergleich haben wir pro Kopf eines der höchsten Bruttosozialprodukte, wir sind zweitgrößte Exportnation, die Arbeitslosigkeit ist stark gesunken und die öffentlichen Schulden nehmen sogar ab.

Und auf der anderen Seite?

Gibt es Entwicklungen, die gerade uns Sozialdemokraten alarmieren müssen. So die unglaubliche Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen. Früher war es selbstverständlich, dass der Chef eines DAX-Unternehmens das Zwanzigfache dessen bekam, was seine Mitarbeiter bekommen haben. Heute kriegen Konzernlenker das Zweihundert- und Dreihundertfache. Herrgott nochmal!

Das regt Sie ziemlich auf.

Allerdings - und nicht nur das. Die Altersarmut nimmt weiter zu. Wenn jemand sein ganzes Leben gearbeitet hat und später trotzdem auf Grundsicherung angewiesen ist, dann ist das nicht nur ein materielles, sondern auch ein emotionales Problem. Nach wie vor ist die höhere Bildung noch zu oft eine der Herkunft und nicht der eigenen Fähigkeiten. Dann nenne ich das Bodenrecht, das dringend einer Reform bedarf. Denn nur so kann der Wahnsinn in der Immobilienwirtschaft gestoppt werden. Die Baulandpreise explodieren seit Jahren und das nicht nur in München. Der Boden kann aber nicht allein den Marktgesetzen überlassen werden. Vielmehr bedarf es strikter staatlicher Rahmenregelungen, die leistungslosen Gewinnen entgegen wirken. Schon deshalb, weil er unverzichtbar und nicht beliebig vermehrbar ist.

"Die soziale Kluft gefährdet die Demokratie"

Sie empfehlen also Ihrer Partei eine klassische sozialdemokratische Agenda. Was ist mit anderen Themen, etwa Europa und Digitalisierung?

Ich sage ja nicht, dass wir andere Themengebiete vernachlässigen sollen. Aber wir sollten uns im Besonderen auf die drohende Erweiterung der sozialen Kluft fokussieren, denn sie gefährdet die Demokratie. Gerade zu den Themen Europa, Digitalisierung, Gesundheitsvorsorge oder Pflege bieten wir konkrete Antworten an.

Dazu müsste die SPD am besten weiter regieren - aber ob das klappt, ist noch offen. Nach wie vor hat die Bundesrepublik keine neue Koalition, auch weil sich SPD-Chef Martin Schulz anfangs gegen eine Neuauflage von Schwarz-Rot gesträubt hat.

Einspruch! Den Zeitverlust kann man Schulz nicht vorwerfen. Er ist von Christian Lindner und der FDP zu verantworten, die wochenlang sondierten und das Jamaika-Projekt kurz vor der Einigung hingeworfen haben.

Welches Regierungsbündnis fänden Sie denn sinnvoll angesichts der Herausforderungen?

Momentan neige ich eher zu einer Minderheitsregierung. Allerdings kann ich mir eine endgültige Meinung erst nach den Sondierungsgesprächen zwischen SPD und Union bilden.

Also gilt in diesem Fall nicht das Motto: "Erst das Land, dann die Partei"?

Klar gilt für uns dieser Leitsatz. Doch sehe ich nicht, dass wir uns in einer Situation befinden, in der die SPD aus Staatsraison eine große Koalition bedingungslos und aus dem Stand heraus akzeptieren müsste. Außerdem könnten wir uns auf bestimmten Gebieten - so etwa in Sachen Europa - auch als Opposition mit einer Minderheitsregierung verständigen.

Schulz fuhr für die SPD mit 20,5 Prozent das schlechteste Ergebnis der Nachkriegs-SPD ein. Kann dieser Vorsitzende die Partei wieder aufrichten?

Schauen wir uns doch das ganze Bild an: Schulz hat verloren - aber deutlich weniger als Angela Merkel mit der CDU/CSU. Schulz hat Fehler eingeräumt. Frau Merkel hat gesagt, sie wüsste nicht, was sie anders hätte machen sollen. Schulz hat erste Anstöße für die Erneuerung unserer Partei gegeben. Ich vertraue ihm.

Die SPD-Linke hat eine Kooperations-Koalition vorgeschlagen, kurz Koko? Was halten Sie von solch einem Modell?

Wenn wir in eine solche "Koko" Minister entsenden, wird eine solche doch wieder als eine Groko wahrgenommen. Auch beim Stichwort Neuwahlen bin ich zurückhaltend. Wer ist sich denn sicher, dass sich das Ergebnis deutlich von dem jetzigen Wahlergebnis unterscheiden wird? Wer ist sich sicher, dass nicht die AfD mit dem einfachen Hinweis darauf, dass sich die von ihr so genannten "Alt"-Parteien noch nicht einmal auf eine Regierung einigen können, weiter dazu gewinnen wird?

Schulz wirbt für die "Vereinigten Staaten von Europa". Ist das ratsam in so einer krisenhaften Phase, in der sich die EU derzeit befindet?

Das ist eine alte Forderung der SPD, die sich schon in ihrem Heidelberger Programm aus dem Jahre 1925 findet und die auch ich bejahe. Allerdings ist das ein Ziel, das sich nicht in den nächsten vier Jahren verwirklichen lässt. Aber wir müssen und wollen eine Menge in dieser Richtung tun.

Derzeit steht allerdings der Abwehrkampf derjenigen im Vordergrund, die Europa vor dem Scheitern bewahren wollen.

Ich bin da nicht so pessimistisch. Großbritannien dürfte nach seinem Exit aus der EU in eine schlechtere Lage geraten, das würde sich allerdings günstig für Europa auswirken. Für andere Staaten, in denen nationalistische Kräfte den EU-Austritt propagieren, dürfte das ein warnendes Beispiel sein. Vor diesem Hintergrund kann man allen EU-Gegnern nur zurufen: Seid Ihr noch bei Sinnen? Zusammen haben die mehr als 500 Millionen Europäer noch ein gewisses Gewicht in der Welt von Morgen. Aber was könnte denn ein Einzelstaat für sich allein auf der globalen Ebene ausrichten? Selbst Deutschland wäre dann höchstens eine Macht mittlerer Größe.

"Das Kernelement der Leitkultur ist die Werteordnung, die unserem Grundgesetz zugrunde liegt"

Kommen wir zu Sigmar Gabriel. Der geschäftsführende Außenminister ruft die SPD dazu auf, eine offene Debatte über Begriffe wie "Heimat" und "Leitkultur" zu führen. Sehen Sie da auch Diskussionsbedarf?

Es stimmt, dass wir den Komplex "Heimat" ernster nehmen müssen, als wir das bisher getan haben. Es gibt vielen Menschen durchaus Halt, wenn sie in ihrer Umgebung nicht nur aus materiellen Gründen zu Hause sind, sondern auch aus emotionalen Gründen. Das kann man nicht einfach ausdünnen.

Und was sagen Sie zur "Leitkultur"? Mit diesem Begriff hantieren doch eher Parteien rechts der Mitte.

Da habe ich nicht recht verstanden, was er meint.

Dann fragen wir konkret: Was bedeutet "deutsche Leitkultur" für Sie?

Für mich ist das Kernelement der Leitkultur die Werteordnung, die unserem Grundgesetz zugrunde liegt. Darüber hinaus ist für mich Nation eine Sprachgemeinschaft, eine Kulturgemeinschaft, eine Geschichtsgemeinschaft und auch eine Gefühlsgemeinschaft.

Gabriel schreibt auch: "Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit."

Darüber sollten wir nachdenken.

Mag sein, aber was sagen Sie zu Gabriels Befund?

Ich finde, man muss von Fall zu Fall abwägen. Generell kann man doch nicht sagen: Umweltschutz ist wichtiger als Arbeitsplätze - oder umgekehrt. Dasselbe gilt für die Innere Sicherheit. Nehmen wir den Fall Anis Amri. Da lag es nicht am Datenschutz, dass er seinen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz verüben konnte.

Sollte sich die SPD mehr der Linken öffnen, wenn sie in absehbarer Zeit den Kanzler stellen will?

Momentan bin ich da skeptisch. Würden bei der Linkspartei im Bundestag vor allem realistische und pragmatische Köpfe wie der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow den Ton angeben, dann wäre Rot-Rot-Grün eine reale Option. Aber in der Fraktion gibt derzeit weitgehend Sahra Wagenknecht und damit indirekt auch ihr Ehemann Oskar Lafontaine den Ton an, dessen verlängerter Arm sie ist und bleibt. Solange das Duo Wagenknecht/Lafontaine Einfluss hat, macht eine Koalition mit der Linken keinen Sinn.

Das klingt nach enttäuschter Liebe, Herr Vogel.

In Bezug auf Lafontaine: Enttäuschung ja, Liebe nein.

Tragen Sie Lafontaine sehr nach, dass er 1999 Knall auf Fall vom Amt des Finanzministers und vom Parteivorsitz zurückgetreten ist?

Seinen Rücktritt als Minister hätte ich verstehen können. Aber ich kann nicht akzeptieren, dass er auch den SPD-Vorsitz einfach weggeworfen hat. Er hätte für seine Ideen kämpfen sollen oder aber gleich aus der SPD austreten müssen. Stattdessen blieb er Mitglied und hat in seiner Kolumne in der Bild-Zeitung seine Partei kontinuierlich angegriffen. Das war nicht anständig.

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