Hans-Dietrich Genscher ist tot:Der Außenminister, der zur Legende wurde

Kein Außenminister war länger im Amt als Hans-Dietrich Genscher, keiner hat so viel bewirkt: Prager Botschaft, Nato-Doppelbeschluss, Wiedervereinigung. Über einen Politiker, der die Welt veränderte.

Nachruf von Thorsten Denkler, Berlin

Ihm wird schwindelig. Wieder und wieder. Hans-Dietrich Genscher muss sich am Balkon der Prager Botschaft festhalten. Es geht ihm nicht gut in diesen Abendstunden des 30. September 1989. Wenige Wochen zuvor, im Juli, hatte er während eines Friseurbesuchs in Bonn einen Herzinfarkt erlitten. Eine komplizierte Nieren-Operation wirkt noch nach.

Aber gerade ist anderes wichtiger. Vor Genscher stehen, sitzen und liegen mehr als 4000 Menschen im Garten der Botschaft. Sie hat die Hoffnung hierher getrieben, über diesen Weg in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen. Raus aus der DDR, dieser geliebten wie gehassten Heimat. Im Sommer des Jahres hat der Exodus aus dem "Arbeiter- und Bauernstaat" begonnen. Es wurden immer mehr. Freiheitshungrige, die zu Hause alles haben stehen und liegen lassen.

Nun harren sie im Garten aus und schauen nach oben. Eine Lampe leuchtet die Wand hinter dem Balkon an. Genscher ist erst nicht erkennbar. Unruhe im Garten. Menschen reden durcheinander. Es hat sich herumgesprochen, dass jemand Wichtiges zu ihnen sprechen soll.

Dann die Stimme Genschers. Dieser gluggernde Singsang Hallescher Prägung. "Wir sind heute zu Ihnen gekommen..." - Pause, Stille im Garten, Genscher spricht weiter: "...um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." Der Rest geht im Jubel unter.

Es ist der Moment, der Genscher vom Außenminister der Bundesrepublik zu einer deutschen Legende gemacht hat.

Auf Augenhöhe mit den Kanzlern

Der FDP-Politiker war schon damals der weltweit dienstälteste Außenminister. Er prägte Begriffe wie Genscherismus und Reisediplomatie. Manche scherzten, er sei sich in der Luft zuweilen selbst begegnet. Viele ausländische Staatschefs geben ihm den Vorzug vor seinen Kanzlern. Unter dreien hat er als Minister gedient: von 1969 an unter Willy Brandt als Innenminister. Seit 1974 unter Helmut Schmidt und Helmut Kohl als Außenminister.

Gedient ist vielleicht das falsche Wort. Genscher hat es jedenfalls in einem Interview mit seinem Freund Rudolf Augstein im Spiegel deutlich zurückgewiesen. "Ich habe mit drei Kanzlern zusammengearbeitet, wenn ich mir diese kleine Verbesserung erlauben darf."

Genscher war 23 Jahre lang Bundesminister, elf Jahre lang bis 1985 Vorsitzender der FDP, 33 Jahre Abgeordneter des Deutschen Bundestages, aus dem er 1998 ausschied. Nach seiner Abschiedsrede erhoben sich über alle Parteien hinweg die Abgeordneten von ihren Plätzen und applaudierten.

Er war der Marathon-Mann der deutschen Politik, der "Dauerläufer im Auswärtigen Amt", wie die Zeit 1992 über ihn schrieb. Er hat die Jahre ohne nennenswerte Skandale überstanden. Im Gegenteil: Genscher wurde Kult, er war der beliebteste Politiker seiner Zeit. Er war "Genschman", der Staatsmann mit dem gelben Pullunder und den großen Ohren, seinen Markenzeichen.

Immer zu einem trockenen Scherz aufgelegt

Anfangs wollte er nicht unbedingt Außenminister werden. Er sprach kaum Englisch, kein Französisch. Er kam aus Halle an der Saale, sein Akzent, meinte er, könnte ihm im Wege stehen. Außerdem war 1974 der weltgewandte Helmut Schmidt Kanzler geworden. Konnte er da nicht nur verlieren? Aber er musste ins Auswärtige Amt. Er war jetzt FDP-Chef. Beides gehörte damals für viele untrennbar zusammen.

Es war seine ganze Art, die ihn so erfolgreich werden ließ. Er setzte Interessen nicht einfach durch. Wie auch? Deutschland war geteilt - und nur teilsouverän. Es war eine der Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg, der Welt demütig gegenüberzutreten. Wenn auch nicht gesenkten Hauptes. Genscher verhandelte. Zielstrebig, kompromissbereit und ausdauernd. Sehr ausdauernd. Und war dabei immer zu einem trockenen Scherz aufgelegt.

Das Witzeln pflegte er auch nach seiner Amtszeit. Zu seinem 80. Geburtstag hatte die FDP in ein Zirkuszelt am Berliner Hauptbahnhof geladen. Er habe es nicht zuletzt den Vertretern des Ärztestandes zu verdanken, dass er hier jetzt stehen könne, ulkte er damals. Und die seien ja an diesem Abend reichlich im Zelt vorhanden. Ein kleiner Spaß auf Kosten der Ärzte-Partei FDP.

Genschers Meisterstück: Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag, der Deutschland nach der politischen Wende 1989/90 die vollständige Souveränität zurückgab. Es galt, die Interessen der Bundesrepublik und der DDR sowie die Interessen Frankreichs, der Sowjetunion, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten unter einen Hut zu bringen. Bis zum Schluss stand in Frage, ob es gelingen würde. Den Briten ging alles zu schnell, den Franzosen war auch nicht wohl, die Sowjets spekulierten auf umfassende Wirtschaftshilfen. Die Amerikaner sorgten sich um ihre geostrategischen Interessen und die Nato, deren Mitglied das wiedervereinigte Deutschland bleiben sollte.

Distanz zu Schmidt, Nähe zu Kohl

Genscher konnte nahezu alle Vorbehalte aus dem Weg räumen. Am 12. September 1990 unterzeichneten er und seine Amtskollegen das Vertragswerk in Moskau. Drei Wochen später trat die DDR der Bundesrepublik bei. Genscher bezeichnete die Unterzeichnung später als das ihn persönlich "am tiefsten bewegende Ereignis der ganzen Amtszeit". "Aalglatt" nannten ihn manche, die ihn in Verhandlungen erlebt hatten. Es war als Kompliment gemeint.

Der Bruch der sozial-liberalen Koalition 1982 gehört zu den wichtigsten Ereignissen, die er innenpolitisch begleiten musste. Er war Parteichef. Die Koalition aus SPD und FDP stand schon lange auf der Kippe. Genscher zog im Herbst 1982 die FDP-Minister aus der Regierung ab. Die Konflikte um die wirtschaftspolitische Ausrichtung waren zu groß, mit Kanzler Schmidt wurde er ohnehin nie warm. Mit CDU-Oppositionsführer Helmut Kohl dagegen duzte er sich schon lange. Genscher machte Kohl zum Kanzler.

In der Partei haben viele den Schritt nicht nachvollziehen können. Führende Köpfe des linken Flügels verließen die FDP und traten, wie Günter Verheugen oder Ingrid Matthäus-Maier, in die SPD ein. Mit ihrem Abgang wurde eine wichtige Strömung in der Partei irrelevant. Ein Verlust, der die Ausrichtung der heutigen FDP geprägt hat.

Karriere trotz und auch wegen der Tuberkulose

Am meisten aufgewühlt haben dürfte Genscher die Geiselnahme israelischer Sportler durch palästinensische Terroristen 1972 während der Olympischen Spiele in München. Er selbst hatte sich im Austausch gegen die Israelis als Geisel angeboten. Seiner Familie hat er davon nichts gesagt. Nur mit ihnen telefoniert hat er noch, bevor er das Angebot machte. Um ihre Stimmen zu hören. Seine Tochter war damals elf Jahre alt. Die Palästinenser lehnten ab. Das Geiseldrama endete blutig.

Genscher hat 1975 die KSZE-Schlussakte von Helsinki unterschrieben, der Beginn eines neuen Zeitalters der Ost-West-Beziehungen. Er hat den Nato-Doppelbeschluss in der eigenen Partei durchgesetzt. Er hat die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr ("Wandel durch Annäherung") gegen die Widerstände in der neuen christlich-liberalen Koalition verteidigt.

Manche sagen, Genscher habe - unwissend - ein Vorhaben verhindert, das den Weg zur deutschen Einheit vielleicht hätte verbauen können. Auf sein Bestreben hin wurde auf dem Nato-Gipfel Ende Mai 1989 in Brüssel die Entscheidung über neue Kurzstreckenraketen vertagt. Stattdessen wurde ein neuer Abrüstungsvorschlag des US-Präsidenten George Bush gebilligt. Hätten sich die Befürworter der Aufrüstung durchgesetzt, eine Zustimmung der Sowjets zu den deutschen Einheitsplänen eineinhalb Jahre später wäre wohl sehr viel schwieriger zu bekommen gewesen.

Eigenmächtig forcierte er Ende 1991 die frühe Anerkennung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien durch die Bundesrepublik. Manche Stimmen machten ihn mitverantwortlich für den Ausbruch des Bürgerkrieges auf dem Balkan. Genscher wies diese Anwürfe entschieden zurück. Er habe mit der Anerkennung die "Internationalisierung des Konflikts" erreichen wollen, um das sich abzeichnende Blutvergießen doch noch zu verhindern, schrieb er in seinen Memoiren.

Trotz seiner langen Amtszeit: Er musste nicht aus dem Amt getragen werden. Genscher ging - völlig überraschend - 1992 auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit. Ein Coup war das damals, der Parteifreunde und Ministerkollegen völlig unvorbereitet traf. Genscher wollte sich nicht fragen lassen wollen: Warum bist Du immer noch da? Er fand einfach, dass es genug sei. Bundespräsident hätte er werden können. Er wollte nicht.

Ganz lassen konnte er es aber auch nicht: Genscher hat Jürgen Möllemann entdeckt und aufgebaut. Als sich Möllemann mit seinem Verhalten gegen die Partei stellte, hat er ihm die Unterstützung wieder entzogen. Genscher hat das Talent von Guido Westerwelle entdeckt und gefördert. Gab es in der Partei mal wieder Krach, pilgerten die Spitzenliberalen zu ihrem Ehrenvorsitzenden, suchten Rat oder schlicht seinen Segen für ihr Vorhaben. Es heißt, ohne Genschers Plazet hätte Westerwelle Anfang 2011 nicht als Parteivorsitzender gestürzt werden können. Zuletzt machte er sich für einen weiteren Ziehsohn stark: Christian Lindner. Philipp Rösler dagegen gelang es nicht, das Wohlwollen des Ehrenvorsitzenden zu erlangen. Nach dem Debakel der Bundestagswahl 2013, das zum Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag führte, kritisierte Genscher den scheidenden Vorsitzenden scharf.

Auch im hohen Alter setzte er sich immer wieder öffentlich in Szene. Warb auf Parteitagen für den Euro, tauchte im Wahlkampf auf, praktizierte via Interviews wieder ein bisschen Außenpolitik. Ende 2013 gelang ihm ein letzter großer Wurf: In Geheimverhandlungen mit Putin erreichte er die Freilassung des Kremlkritikers und ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowskij nach zehn Jahren Lagerhaft.

Das Amt hat Genscher und seiner Familie viel abverlangt. Einmal, es war im Jahr 1977, Genscher bereitete sich gerade auf den Kieler FDP-Parteitag vor, rief seine Frau ihn völlig aufgelöst von zu Hause an. Auf der Terrasse lag ein toter Mann. Ein Sicherheitsbeamter, versehentlich erschossen von seinem Kollegen. Sie hatten mit ihren Waffen gespielt. "Ein Albtraum", bekannte Genscher später.

Früh vaterlos, jung in den Krieg

Ausdauer hat Genscher gehabt. Sie kam nicht von ungefähr. 1937 verlor er mit neun Jahren seinen Vater. Noch im letzten Kriegsjahr wurde er ab 1944 als Flakhelfer eingesetzt. Er geriet kurz in Kriegsgefangenschaft, bevor er im Juli 1945 nach Halle zurückkehrte und sein Abitur nachholte.

Was ihn aber wirklich für sein Leben prägte, war seine schwere Tuberkulose-Erkrankung. Zwischen 1946 und 1957 verbrachte er zusammen dreieinhalb Jahre in Krankenhäusern und Lungenheilstätten. Ein Arzt habe ihm damals einen Satz mit auf den Weg gegeben, der zu Genschers Lebensphilosophie geworden ist. Er solle "nichts, aber auch gar nichts" mit der Krankheit entschuldigen.

Genscher nahm sich das zu Herzen, kämpfte sich trotz der Krankheit durch sein Jura-Studium. Viele Kommilitonen halfen ihm. "Was Thomas Mann im Zauberberg über Lungenheilstätten schreibt, ist Realität", sagte Genscher einmal. "Man konnte dort lebensuntüchtig werden." Und: "Ich hätte Skat spielen können bis in den Tod. Ich habe mich für die Alternative entschieden."

Im Rückblick konnte Genscher diesen Jahren etwas Gutes abgewinnen: "Meine schwächste Zeit machte mich stark", sagte er.

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag ist Hans-Dietrich Genscher in Bonn gestorben. Er wurde 89 Jahre alt.

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