Süddeutsche Zeitung

Politiklegende:Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele ist tot

Er war Revoluzzer, RAF-Anwalt und Mitbegründer der Grünen. Ein sensationeller Wahlsieg machte Hans-Christian Ströbele zur Parteilegende. Nun ist er im Alter von 83 Jahren gestorben.

Von Markus C. Schulte von Drach und Oliver Klasen

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele ist tot. Er starb am Montag im Alter von 83 Jahren, wie sein Rechtsanwalt Johannes Eisenberg mitteilte.

Der frühere RAF-Anwalt Ströbele, dessen Markenzeichen ein roter Schal, leuchtend weiße Haare und sein Fahrrad waren, gewann 2002 als erster Grüner ein Direktmandat, und zwar in seinem Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg, und ging damit in die Parteigeschichte ein.

Ströbele gehörte zu den Mitbegründern der Grünen Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre. Später war er kurzzeitig einer von drei Parteisprechern; "Vorsitzende" durften sich die Spitzen der Grünen, die sich damals noch als Anti-Parteien-Partei verstand, bewusst nicht nennen. Bei den Grünen war er, insbesondere zu Zeiten der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder, stets ein kritischer Geist. In seinem Wahlkreis, den Ströbele insgesamt vier mal direkt gewonnen hat, trat er einmal sogar mit dem Slogan "Ströbele wählen heißt Fischer quälen" an.

2001, nach dem Terroranschlag vom 11. September, stimmte Ströbele als einer von vier Abgeordneten in der rot-grünen Koalition gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Die Abstimmung, die Schröder mit der Vertrauensfrage verknüpfte, brachte die Regierung damals beinahe zum Scheitern. Nur weil die insgesamt acht Abweichler ihre Stimmen aufteilten, blieb Schröder Kanzler. Ströbeles Nein rührte, anders als häufig behauptet, allerdings nicht von einer pazifistischen Grundhaltung her. Er selbst stellte wiederholt klar, dass er kein Pazifist sei.

Im Bundestag saß Ströbele zunächst von 1985 bis 1987, damals kam er über das sogenannte Rotationsprinzip der Grünen nachträglich ins Parlament, weil kein Abgeordneter länger als zwei Jahre amtieren durfte. So wollten die Grünen die Entstehung einer Kaste von Berufspolitikern vermeiden.

1998, inzwischen waren die Statuten aufgeweicht und die Grünen zu einer normalen Partei geworden, zog Ströbele erneut in den Bundestag ein. Ein Erfolg, den er bei den Wahlen 2002, 2005, 2009 und 2013 wiederholte. Seine Themen im Bundestag waren Innere Sicherheit, Polizei, Verfassungsschutz, Geheimdienste, Bürgerrechte und Datenschutz. Einen Namen gemacht hat sich Ströbele im Bundestag als Mitglied jenes Kontrollgremiums, das die Nachrichtendienste überwacht. Außerdem war er Mitglied in fünf Untersuchungsausschüssen. Den Skandal um die NSA, den US-Auslandsgeheimdienst, der jahrelang hochrangige deutsche Politiker ausgeforscht und abgehört hatte, hat er intensiv begleitet. Als Verfechter von Bürgerrechten war er auch über die parteipolitischen Grenzen hinaus geschätzt. 2017 kandidierte Ströbele, bereits gesundheitlich angeschlagen, nicht erneut für den Bundestag.

Ströbele hielt die Rechte am "Wunder von Bern"

Zuvor hatte er selbst in jener Zeit, als er sich wegen seiner Krebserkrankung einer Strahlentherapie unterziehen musste, weiter gearbeitet und keine Parlamentssitzung ausfallen lassen. Aufzugeben war für ihn in all den Jahren seiner politischen Arbeit nie eine Option - selbst wenn der Widerstand gegen seine Positionen in der eigenen Partei immer wieder groß war, genau wie sein eigener Widerstand gegen Positionen der Partei.

Geboren wurde Ströbele 1939 in Halle an der Saale. Sein Vater Rudolf Ströbele war Chemiker bei den Buna-Werken und NSDAP-Mitglied. Seine Mutter hatte, wie Ströbele später selbst, Jura studiert, durfte unter den Nazis jedoch kein Referendariat absolvieren. Ströbele ist - ein Kuriosum, das oft zitiert wird - ein Neffe des Fußballreporters Herbert Zimmermann und hielt gemeinsam mit seinen drei Geschwistern die Rechte an der Übertragung des Fußball-Weltmeisterschaftsfinales von 1954, das als das "Wunder von Bern" in die Geschichte eingegangen ist. Die Erlöse aus der Rechteverwertung hat er stets gespendet.

Nach dem Krieg nahm die US-Armee, als sie sich aus der Ostzone zurückzog, die Familie Ströbele mit in den Westen - Rudolf Ströbele, der qualifizierte Chemiker, sollte nicht in russische Hände fallen. Nach dem Abitur 1959 ging Hans-Christian Ströbele zur Bundeswehr. Dort fiel er bereits auffiel: Er verweigerte die Beförderung zum Gefreiten. Es war das erste Mal, dass er öffentlich zeigte: "Ich bin bereit, bei einer Sache mitzumachen - aber nicht so, wie Ihr es wollt, sondern nach meinen eigenen Vorstellungen." Diese Haltung sollte charakteristisch werden für sein weiteres Leben.

1960 begann er mit dem Studium der Rechtswissenschaften, Politologie und Politik in Heidelberg und West-Berlin, wo er sich der "Außerparlamentarischen Opposition" gegen die Große Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) anschloss. Wie viele Studierende, Schülerinnen und Schüler protestierte er gegen die Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen, die konservativen Normen und Werte der Elterngeneration und gegen den Vietnamkrieg. Ströbele war überzeugt, dass eine Revolution in Deutschland notwendig war. Er hatte sogar Verständnis für das Werfen von Steinen und Molotow-Cocktails - hielt aber selbst Gewalt für den falschen Weg. So begann er einen heiklen Balanceakt: Er setzte sich vor Gericht für angeklagte Aktivisten und später für einige der Terroristen der Roten Armee Fraktion ein. Ihre Verteidigung sah Ströbele als Möglichkeit, ihre Anliegen, nicht aber ihre Methoden, zu unterstützen.

Aus der SPD wurde er ausgeschlossen, weil er RAF-Terroristen mit "Liebe Genossen" anschrieb

Das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke 1968 und die Einführung der Notstandsgesetze durch die Große Koalition führte zu einer weiteren Radikalisierung in Teilen der Bewegung. Zwar versprach Willy Brandt (SPD) als Kanzler der sozialliberalen Koalition 1969 Reformen. Viele Anhänger der Studentenbewegung starteten in der SPD den von Dutschke empfohlenen "Marsch durch die Institutionen". Auch Ströbele wurde 1970 Mitglied der Partei in Berlin-Wilmersdorf. Außerdem gründete er nach seiner Zulassung als Anwalt gemeinsam mit dem späteren RAF-Terroristen (und heutigen Rechtsextremen) Horst Mahler und weiteren Juristen das "Sozialistische Anwaltskollektiv".

Bereits einige Jahre später, 1975, wurde Ströbele jedoch wieder aus der SPD ausgeschlossen, weil er RAF-Terroristen, seine Mandanten, in Briefen mit "Liebe Genossen" angeschrieben hatte.

Ströbele war außerdem vor 40 Jahren Mitgründer und Unterstützer der taz, die sich als alternatives Zeitungsprojekt gründete, um, wie es damals hieß, eine "Gegenöffentlichkeit" zu den etablierten Medien herzustellen.

Grünen-Spitze betrauert Ströbeles Tod

Die Grünen betrauern den Tod ihres Mitbegründers. Mit Ströbele verliere die Partei "eine Ikone des Kampfes für Demokratie und Frieden", schreibt Co-Parteichef Omid Nouripour auf Twitter. "Ich verliere einen wunderbaren Ex-Büronachbarn, von dem ich soviel über kritischen, substanziellen und respektvollen Diskurs gelernt habe. Hans-Christian, ruhe in Frieden."

Co-Parteichefin Ricarda Lang schreibt: "Er hat mich mit seiner Integrität und seinem unbeirrbaren Kampf gegen Ungerechtigkeit zutiefst beeindruckt. Mit ihm geht ein großer Politiker, Rechtsanwalt und Mensch, der unsere Partei, aber auch unser ganzes Land geprägt hat."

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