Handel:Der Reiz der Rolltreppe

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Von Entlastung der Öko-Bilanz keine Spur: Trotz des Zuwachses im Online-Handel kaufen die Deutschen weiter in den Städten ein - hier in Berlin. (Foto: Tim Brakemeier/dpa)

Wer glaubt, das Online-Geschäft gehe durchweg zu Lasten von Läden und Kaufhäusern, der täuscht sich.

Von Michael Kläsgen

Der Wandel war brutal. Viele kleine Händler verloren ihre Existenzgrundlage, die Macht des neuen Handelsriesen, der vor ihren Augen entstand, schien unendlich groß zu sein. Den Schriftsteller Émile Zola inspirierte das zu einem Roman. 1883 wurde "Das Paradies der Damen" veröffentlicht. Das Paradies war für Zola im ironischen Sinn das damals neu eröffnete Kaufhaus "Bon Marché" in Paris, das erste Kaufhaus überhaupt. Vom Bon Marché ging eine umwälzende Kraft aus, der sich kein Händler im Umkreis entziehen konnte.

Die Analogie zu Amazon und dem Onlinehandel ist offensichtlich. "Als die ersten Kaufhäuser vor 140 Jahren öffneten, war das eine ähnliche Zäsur", sagt Kai Hudetz, Geschäftsführer des Handelsforschungsinstituts IFH in Köln. "Die Auswirkungen des Onlinehandels auf die Innenstädte sind heute ähnlich groß." Nur: Im Gegensatz zum Bon Marché ist der Onlinehandel ein globales Phänomen. Alle Händler der Welt sind davon betroffen, und seine Macht scheint ungebrochen zu sein. Allein in Deutschland wächst er jedes Jahr laut offizieller Statistik um zehn Prozent. In den Wochen vor Weihnachten kaufen die Menschen besonders viel online. Am einträglichsten sind für Onlinehändler wie Amazon globale Verkaufsaktionen wie der Black Friday oder Cyber Monday in diesen Tagen.

Kein Wunder, dass in einem Atemzug mit dem Erstarken des Onlinehandels von der Verödung der Innenstädte die Rede ist. Der Erfolg des einen muss den Niedergang des anderen bedingen - dieser Gedanke drängt sich auf. Doch die Zahlen des Retail Institute EHI zeigen etwas anderes. Danach haben die Einzelhändler in Deutschland insgesamt noch nie so viel Umsatz wie heute gemacht; und die Fläche, auf der sie verkaufen, ist konstant geblieben. Hinzu kommt: Der Onlinehandel mag zwar jedes Jahr zweistellig wachsen, er tut dies aber immer noch von einer vergleichsweise geringen Basis aus. Die Menschen kaufen etwa 90 Prozent der Waren nach wie vor in einem stationären Geschäft. Die Aussage, wonach der Onlinehandel die Läden in den Städten kaputt macht, ist so kategorisch ausgedrückt nicht haltbar. "Die Verödung der Innenstädte gibt es so pauschal nicht", sagt der Handelsexperte Hudetz.

Andererseits hinterlässt der Onlinehandel in vielen Städten seine Spuren. "Doch das ist von Ort zu Ort sehr unterschiedlich", sagt Hudetz. Generell feststellen lasse sich nur, dass die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern auseinandergehe. "Große, attraktive Städte zählen tendenziell zu den Gewinnern, mittelgroße Städte zu den Verlierern." Wer durch die Innenstadt von München, Köln oder Hamburg läuft, hat kaum den Eindruck, hier veröde irgendetwas. "In manchen Regionen, etwa in der Eifel, schließt jedoch der letzte Supermarkt."

Im Vorteil sind grundsätzlich Städte, egal ob klein oder groß, die in ihrem Zentrum eine Attraktion zu bieten haben, etwa einen historischen Altstadtkern. Das zieht Besucher an, und Besucher sind potenzielle Käufer. Mittelgroße Städte leiden zudem eher als Kleinstädte, in denen die Einwohner den Metzger oder Tante-Emma-Laden zu Fuß erreichen können. Mittelgroße Städte haben vor allem dann ein Problem, wenn kaufwillige Menschen "erst 20 Minuten im Stau stehen", so Hudetz, "um dorthin zu kommen, und dann noch zehn Minuten einen Parkplatz suchen müssen".

Aber auch hier verbietet sich jede Pauschalisierung. Das IFH hatte 2016 Passanten in 121 Städten befragt, und die waren gar nicht so unzufrieden. Eine generelle Verödung der Innenstädte nehmen die Menschen nicht wahr. Im Durchschnitt benoteten sie ihre Städte mit einer Drei plus. Die besten Noten erhielten dabei die Innenstädte zahlreicher Klein-und Mittelstädte wie Westerstede, Freudenstadt oder Bernkastel-Kues an der Mosel.

Oft entscheiden Kriterien über die Anziehungskraft einer Stadt, die diese selbst kaum beeinflussen können. Liegt sie im Zentrum einer ländlich geprägten Gegend, ist das eher günstig. Die Lage einzelner Sehenswürdigkeiten bestimmt wiederum, welchen Weg die Passanten in der Stadt gehen. Der Kölner Dom beispielsweise liegt direkt am Hauptbahnhof und in unmittelbarer Nähe zur Hohen Straße, einer der belebtesten Einkaufsstraßen Deutschlands. Lenkt der Dom den Besucherstrom hierher, oder ist die Straße so voll, weil die Geschäfte die Menschen anziehen? Das lässt sich nicht so leicht beantworten.

Generell gilt nur, dass der Kunde im Onlinezeitalter nicht mehr wegen eines bestimmten Produkts in die Stadt fahren muss. "Das bekommt er auch im Internet", sagt Hudetz. "Dort ist es jederzeit verfügbar." Die Städte seien deswegen gefordert, dem Kunden einen Mehrwert zu bieten. "Das kann besonders guter Service sein, das Flair in einer Stadt oder ein Ereignis."

In vielen Innenstädten haben Restaurants oder Imbisse eröffnet. Immer häufiger finden sich auch Essmöglichkeiten in den Läden einzelner Händler. Die Angebote sollen die Kunden zum Verweilen einladen. Die Händler wissen, allein die Ware zieht die Menschen nicht mehr in die Innenstadt. "Früher kamen die Menschen zum Einkaufen in die Stadt und haben dann vielleicht noch etwas gegessen", sagt Hudetz. "Heute kommen sie zum Essen und kaufen danach vielleicht noch was." Wenn die Bauvorschriften nicht so streng wären, sähe man vermutlich noch mehr Gastronomie in den Einkaufsstraßen.

Auch im Erdgeschoss des Bon Marché gibt es eine große Lebensmittelabteilung. Das Kaufhaus, das Ende des 19. Jahrhunderts die kleinen Händler das Fürchten lehrte, muss sich nun selbst in Zeiten des Onlinehandels bewähren - und schafft das wohl ganz gut.

© SZ vom 30.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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