Süddeutsche Zeitung

Rechtsterroristischer Anschlag:Wie Hanau die Trauer bewältigt

Der Attentäter hat fast nur junge Menschen erschossen. Zwei Tage nach der Tat in Hanau erfährt man immer mehr über die Opfer - und über ihre Angehörigen.

Von Matthias Drobinski, Christiane Schlötzer und Jan Willmroth

Sie haben Boxen aufgebaut und ein Mischpult, im Hintergrund die Midnight Shisha Bar, in ihren Händen Bilder von einigen, die am Mittwochabend dem rassistischen Terror zum Opfer fielen. "Hanau ist die Stadt der Migration", ruft Newroz Duman, "Hanau ist unsere Stadt!" Sie hat diesen Termin koordiniert mit Mitgliedern des kurdischen Kulturvereins, unterstützt von Gewerkschaftern aus der Stadt. Sie spricht stellvertretend für die Angehörigen der Opfer, für die Verwandten und Freunde, die hinter ihr stehen, sie spricht für die vielen Menschen aus Zuwandererfamilien, denen der Terror Angst macht. "Bin ich vielleicht die Nächste, weil ich schwarze Haare habe?", fragt sie.

Es ist Viertel vor fünf am Freitag, der zweite Tag nach dem Anschlag, am Tatort in der Innenstadt haben sich Betroffene versammelt, um gemeinsam zu trauern. Um denen eine Stimme zu geben, die nicht mehr leben, um ihren Familien Raum zu geben. Bevor sich die mehr als 400 Menschen auf den Weg machen zu einem Schweigemarsch in Richtung Kesselstadt, in Richtung des zweiten Tatorts, verliest Duman die Namen der Toten. "Sie sind jetzt Teil der Geschichte dieser Stadt", ruft sie, "und wir werden alles dafür tun, dass sie nie vergessen werden."

Muhammed B. gehört zu den Ersten, die im Fernsehen sprechen über den Horror von Hanau. Er liegt im Krankenbett, noch unter Schock, die Schusswunde an seiner rechten Schulter ist mit großen Pflastern versorgt, er hat eine Notoperation hinter sich. Fernsehkameras zeichnen am Donnerstag auf, was er zu erzählen hat. Er spricht türkisch, später werden erst türkische und dann deutsche Nachrichtensender immer wieder diese Szene wiederholen. Sie saßen in der Arena-Bar im Hanauer Stadtteil Kesselstadt, zehn oder zwölf Leute, sie hätten gegessen, als der Täter kam und einige von ihnen mit Kopfschüssen tötete. Er habe sich versteckt, sagt Muhammed, hinter einer Wand, ein Schuss habe ihn getroffen. Er habe sich auf jemanden gelegt, und dann jemand auf ihn.

"Der Junge unter mir hatte ein Loch im Hals", sagt er in die Kamera, "er sagte: 'Bruder, ich kann meine Zunge nicht spüren, ich kann nicht atmen'." Er solle das Glaubensbekenntnis sprechen, habe Muhammed zu ihm gesagt, und der Junge habe laut geschrien: "Sprecht alle das Glaubensbekenntnis!" Aber es blieb still.

Wenn ein Verbrechen geschieht, dann steht meist der Täter im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Wieso tut er das, was treibt ihn, was hätte passieren können oder müssen, um ihn zu stoppen? Der Gewalttäter fasziniert in unheimlicher Weise und zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Das Böse verstört, erschrickt, löst Alarmreflexe aus. Die Opfer und ihre Geschichten aber kommen oft nur am Rande vor. Schmerz, Trauer und Zorn der Überlebenden und der Angehörigen tragen augenscheinlich nichts zur Erklärung des Verbrechens bei, die Halbwertszeit des menschlichen Mitgefühls ist erschreckend kurz.

Neben dem Entsetzen hat auch die Trauer ihren öffentlichen Raum

In Hanau war das anders. Schon am Morgen nach der Mordnacht teilten Hanauer Fotos der Frau und der acht Männer, die der Täter erschossen hatte, bei Whatsapp und Instagram, auf dass niemand sie vergesse. Hanau ist mit seinen 100 000 Einwohnern zwar durchaus städtisch, aber keine anonyme Großstadt; die meisten der Ermordeten sind hier zur Schule gegangen und hinterlassen nun auch entsetzte ehemalige Schulfreunde. Auch in Shisha-Bars und Cafés trafen sich Freundeskreise, und nicht zuletzt die Moscheegemeinden und Migrantenvereine haben dazu beigetragen, dass neben dem Entsetzen nun die Trauer ihren öffentlichen Raum erhält.

Zum Beispiel in jenem Fabrikgebäude, in dem der Kulturverein AYDD seinen Sitz hat. Am Donnerstag drängelten sich dort 300 Menschen, viele stammen aus der osttürkischen Provinz Ağrı. Sie trauern mit Behçet Gültekin, dem 77-jährigen krebskranken Vater, um Gökhan Gültekin. Die Familie stammt auch aus Ağrı. "Gökhan war der Besonnene und Fleißige in der Familie gewesen", erzählt der Vater. Er wohnte noch zu Hause, stand kurz vor der Verlobung. Die Schule hatte er ohne Abschluss verlassen und doch immer gearbeitet, tagsüber und dann noch einmal abends in einem Café-Kiosk in Kesselstadt, auch, um den kranken Vater zu unterstützen. Dort traf ihn die Kugel des Attentäters. Seit 1968 lebte die Familie in Hanau, Gökhan wurde dort geboren; mit 28 Jahren hatte ihn ein Bus erfasst, lange war nicht klar, ob er überlebt - er schaffte es, seine Freunde hielten ihn für ein Glückskind.

Auch Ferhat Ünver, ein 22-jähriger Kurde, war der Stolz seiner Familie. "Ferhat hatte sein Leben noch vor sich", sagt sein Cousin, "da war noch so vieles, das auf ihn gewartet hat in diesem Land." Erst am Wochenende hatte er seine Ausbildung abgeschlossen, als Anlagenmechaniker in einem Sanitärbetrieb. Ein lebenslustiger Mensch sei Ferhat gewesen, der immer gelacht habe, "das darf niemals vergessen werden", sagt sein Cousin Ali am Donnerstagnachmittag in die Kamera eines Reporters. Ferhat mochte Rapmusik, er traf sich am Abend mit Freunden in der Arena-Bar. Ferhats Opa war als Gastarbeiter gekommen, erzählt Ali, er habe damals in Hanau Straßen wieder aufgebaut, jene Straßen, über die am Mittwochabend der Attentäter mit seinem BMW raste.

Ferhats Vater hätte gerne bei der Gedenkveranstaltung am Donnerstagabend auf der Bühne gestanden, neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier, Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky. Er sei, berichtet der hessische SPD-Landtagsabgeordnete Turgut Yüksel, abgewiesen worden. Da oben sei es dann zu voll.

Auch Fatih Saraçoğlu starb am Mittwoch, er lebte noch nicht lange in Hanau, der 34-Jährige war aus Regensburg ins Rhein-Main-Gebiet gekommen, um sich selbständig zu machen. So erzählt es Salih Altuner, Herausgeber der deutsch-türkischen Zeitschrift Regensburg Haber und Integrationsbeirat der Stadt. "Ich kenne die Familie gut", sagt er, "sein Bruder ist hier Busfahrer, das sind ganz freundliche, zurückhaltende Menschen. Fatih hatte hier noch viele Freunde", sagt er. Saraçoğlu starb in der Bar Midnight in der Innenstadt. Das Totengebet werde in Regensburg stattfinden, in Bayern, nicht im fremden Hessen, sagt Altuner. Und die Beerdigung in Corun in Zentralanatolien.

Weltweit hat der Tod von Mercedes Kierpucz besondere Erschütterung ausgelöst. Die 35-jährige Romni, die aus Polen kam und im Café-Kiosk neben der Arena-Bar arbeitete, hinterlässt zwei Kinder; angeblich war sie mit dem dritten schwanger.

"Wir haben das hier mit aufgebaut, das Leben hier."

Von den anderen Ermordeten ist öffentlich weniger bekannt. Von Hamza Kurtović, dem 22-Jährigen, dessen Familie aus dem bosnischen Prijeder stammt, gibt es schwarz-weiße Facebook-Fotos eines lächelnden Mannes zwischen Kindheit und Erwachsensein und den fassungslosen Eintrag einer Freundin, die nach dem Termin der Beerdigung fragt: "Wir haben unseren Engel Hamza Kurtović verloren. Ich kann es nicht glauben." Sedat Gürbüz, 30 Jahre, war der Besitzer eines betroffenen Lokals. Sein Vater Selahattin Gürbüz, wohnt in Dietzenbach. Dort besuchte ihn laut Hürriyet der türkische Botschafter Ali Kemal Aydin. "Wir konnten unser Kind nicht schützen", sagte der verzweifelte Vater.

Kalojan Welkow, der 32-jährige Wirt der Bar "La Votre" in der Hanauer Innenstadt, stammt aus Bulgarien. Mit Said Nessar El Hashemi ist auch ein aus Afghanistan stammender Mann unter den Ermordeten, sein Bruder überlebte schwer verletzt. Auch von El Hashemi gibt es noch jene Bilder im Netz, die einen fröhlichen jungen Mann mit manchmal pubertierendem Humor zeigen.

Menschen, so unterschiedlich und bunt wie das Leben, die letztlich nur eint, dass sie zufällig an jenem Mittwochabend gegen 22 Uhr in Hanau ausgehen wollten, etwas essen oder etwas zu essen besorgen, die das Fußballspiel zwischen RB Leipzig und Tottenham Hotspur schauten oder nur eine Wasserpfeife rauchten. Und die eint, dass sie in den Augen ihres Mörders die falsche Haut- und Haarfarbe hatten, dass sie sich an den falschen Orten aufhielten, und dass sie deshalb sterben mussten.

"Ich bin Hanauerin, Wir sind Hanauer", ruft Duman am Freitag, "wir haben das hier mit aufgebaut, das Leben hier." Da ist viel Wut in ihren Worten, sehr viel Trauer. Aber auch viel Würde.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes wurde Bilal Gökçe als eines der Opfer genannt. Das ist falsch, Bilal Gökçe lebt. Er tauchte fälschlicherweise auf verschiedenen Opferlisten auf und sein Name wurde bei der Mahnwache am Freitagnachmittag in der Hanauer Innenstadt verlesen. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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Quelle:
SZ vom 22.02.2020
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