Rassismus:Hanau, ein halbes Jahr nach dem Anschlag

Gedenken an Anschlag von Hanau

Warten auf Aufklärung: Am Hanauer Schlossplatz sind Fotos der neun Anschlagsopfer platziert.

(Foto: Marijan Murat/dpa)

Viele begreifen erst jetzt so richtig, was passiert ist, spüren die Leere, den Verlust. Auch sind viele Fragen offen - und die Betroffenheit lässt nach.

Von Matthias Drobinski, Hanau

Çetin Gültekin hat das weiße T-Shirt übergezogen, vorn zeigt es ein freundlich rundes, bärtiges Gesicht: Gökhan Gültekin, genannt Gogo, erschossen am 19. Februar 2020, 38 Jahre wurde er alt. Noch am Abend ist der Platz vor dem Denkmal sommerheiß, oben beugen sich die bronzenen Brüder Grimm, die großen Söhne Hanaus, über ein Buch; eine Taube liest mit. Unten leuchten Hunderte Blumen. Vor den Märchensammlern stehen auf Stahlrohrstühlen neun Porträts, farbig und lebensfroh: Vili Viorel Păun. Sedat Gürbüz. Fatih Saraçoğlu. Ferhat Unvar. Mercedes Kierpacz. Kaloyan Velkov. Hamza Kurtović. Said Nesar Hashemi.

Und Gökhan Gültekin. Çetins Bruder. Alle starben sie am Abend des 19. Februar, weil Tobias R. am Heumarkt in der Innenstadt auf die Menschen schoss und dann nach Kesselstadt fuhr und auf Menschen schoss; dann um die Ecke, im Elternhaus, seine Mutter tötete und sich selbst. Neun Menschen mussten sterben, weil ihr Mörder sie als fremd und ausländisch empfand, weil er Aufmerksamkeit für seine Verschwörungsfantasien wecken wollte. Es war der bislang schwerste rassistisch motivierte Mordanschlag in Deutschland.

Ein halbes Jahr ist das her. Gut hundert Menschen haben sich an diesem Mittwochabend vor dem Denkmal versammelt, auf dem weiten Platz den Corona-Abstand zu halten fällt nicht schwer. Viele tragen die weißen T-Shirts, Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) sagt ins Mikrofon, dass der 19. Februar der schlimmste Tag in Hanau gewesen sei, seit am 19. März 1945 die Stadt im Bombenhagel verbrannte. Ein Banner hängt vom Rathaus: "Kein Platz für Rassismus und Gewalt" steht da. Kaminsky ruft zur Demonstration am Samstag auf, sie soll Konsequenzen einfordern, wird aber am Freitagabend wegen Corona kurzfristig abgesagt. Die geplante Kundgebung selbst werde aber stattfinden und im Internet übertragen, erklärten die Organisatoren.

Bis zu 10 000 Menschen sollten kommen. Çetin Gültekin steht am Rand des Platzes. "Für uns ist das Leben Folter", sagt er. Nur wenige Wochen nach Gogo starb auch der krebskranke Vater der Familie, seelisch gebrochen. Die Mutter hält es seitdem nicht mehr in der Wohnung aus. Sie sitzt auf dem Balkon, aber da hat sie den Kiosk im Blick, in dem ihr Sohn verblutete. Sie war jetzt in der Türkei, bei den Gräbern von Kind und Mann, dort aber will sie auch nicht bleiben, so ist sie wieder hier und sitzt auf dem Balkon. "Ich will kein Mitgefühl", sagt Gültekin, "ich will Gerechtigkeit." Dass sie eine andere Wohnung bekommen. Und dass endlich alles aufgeklärt wird, was in der Mordnacht von Hanau geschah.

Es ist viel passiert in diesen sechs Monaten. Die Corona-Pandemie ist auch über Hanau gekommen, die Leute sorgen sich um Gesundheit oder Freiheit, um den Arbeitsplatz. Doch wen der Anschlag getroffen hat, für den sind sechs Monate kurz. Viele begreifen erst jetzt so richtig, was passiert ist, spüren die Leere, den Verlust.

In Hanau haben sie viel getan, um den Betroffenen zu helfen - das Desaster nach dem islamistischen Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 sollte sich nicht wiederholen. Damals blieben Angehörige der Opfer lange ohne jede Hilfe. Oberbürgermeister Kaminsky richtete rasch einen Krisenstab ein, Gelder bereitgestellt, das Land Hessen bewilligte gerade noch weitere 600 000 Euro. Zur Trauerfeier im März kamen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel, nächsten Mittwoch trifft Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier die Opferfamilien zum zweiten Mal.

Die Pläne für eine Gedenk- und Bildungsstätte haben sich zerschlagen

Man findet die Namen der Ermordeten auf kleinen Plakaten überall in Hanau, in den Schaufenstern der Bankfilialen, Optiker, Bäckereien. Es soll ein Denkmal geben für sie, ein Künstlerwettbewerb läuft. Für drei Jahre ist ein Raum gegenüber der Midnight-Bar angemietet, wo sich Angehörige und Freunde der Ermordeten treffen und reden können. Und es gibt das "Institut für Toleranz und Zivilcourage - 19. Februar Hanau", das Wut und Trauer in einen Lernprozess münden lassen will.

Man trifft den Vorsitzenden Ferdi Ilkhan in den kahlen Räumen, die die Initiative provisorisch bezogen hat - der Plan hat sich zerschlagen, eine Gedenk- und Bildungsstätte am Heumarkt zu errichten, im einstigen Lokal La Votre, dessen Betreiber Kaloyan Velkov der Täter erschoss; der Eigentümer will doch lieber Spielautomaten aufstellen. Überhaupt erscheint nun manches schwieriger als unmittelbar nach dem Attentat, als alle Hürden überspringbar erschienen. Das Konzept für eine Wanderausstellung in Schulen muss überarbeitet werden. Die Suche nach einem Standort für das Denkmal könnte schwierig werden, sagt Ilkhan. Nicht jeder in der Stadtverordnetenversammlung wünsche es prominent platziert, überhaupt mehrten sich die Stimmen, die fänden, dass es jetzt mal gut sei mit der Trauer und dem Gedenken.

"Die Betroffenheiten gehen zunehmend auseinander", sagt Ferdi Ilkhan. Monatelang haben er und seine Frau Selma Yilmaz Ilkhan, die Vorsitzende des Ausländerbeirats, sich um die Angehörigen gekümmert. Sie haben nächtelang bei weinenden und bitter schweigenden Menschen gesessen, alles ehrenamtlich. Ewig gehe das nicht so weiter, sagt Ferdi Ilkhan.

Dabei sind für die Angehörigen noch so viele Fragen offen. Warum merkten Polizei und Verfassungsschutz nicht, was Tobias R. plante? Wie kann es sein, dass er offenbar zweimal in Uniform und mit Sturmgewehr durch Hanau rannte, dass nie gegen ihn ermittelt wurde, er seinen Waffenschein behielt? Wie kann es sein, dass Vili Viorel Păun in der Tatnacht hinter dem Mörder herfuhr, um ihn zu stoppen - und dabei vergebens immer wieder den Polizeinotruf wählte? Viorel Păun sei erschossen worden, weil er mutig war und die Polizei zu spät gekommen sei, sagt Ilkhan, sie habe sich nicht in die Bars getraut, obwohl dort Menschen in ihrem Blut gelegen seien. Und er habe gehört, dass Polizisten sich später am Tatort ungerührt unterhalten und gelacht hätten.

Sind das haltlose oder berechtigte Vorwürfe? "Wenn die Polizei und der Generalbundesanwalt offen sagen würden, wir haben Fehler gemacht, aus denen wir lernen müssen, dann würde das jeder verstehen", sagt Ferdi Ilkhan, "so aber gibt es Platz für Gerüchte und Pauschalvorwürfe gegen die Polizei." Fragt man nach dort nach, heißt es, man ermittle noch. Und dass die Sache auch deshalb juristisch schwierig sei, weil man gegen einen Toten ermittle, der nicht mehr vor Gericht gebracht werden könne. Die Angehörigen stellen solche Erklärungen nicht zufrieden.

"Erst wenn wir die ganze Wahrheit wissen, können wir trauern", ruft eine Rednerin über den Hanauer Marktplatz. Weiter hinten überragt ein Zwei-Meter-Mann die Umstehenden: Robert Erkan, bis zum Montag Opferbeauftragter der Stadt Hanau. "Wir dürfen nicht immer nach dem Warum fragen", sagt er, "das führt nicht weiter - erst recht, wenn sich die Wahrheit vielleicht nie ganz herausfinden lassen wird", sagt er. Er wolle lieber nach dem Wofür und Wozu fragen, nach dem Lernprozess nach den Morden. Weniger Alltagsrassismus in Hanau, das wäre ein schönes Ziel - "aber dazu braucht es die Verbindung und den Dialog der ganzen Stadtgesellschaft", sagt er. Die dürfe nicht verloren gehen - zum Beispiel dadurch, dass Leute von den extremen Rändern, ob rechts, nationalistisch oder links, das Wort führten.

Neben dem Grimm-Denkmal bereiten junge, bunthaarige Leute Schilder für die Demo vor, mit den Gesichtern der Ermordeten, die Stimmung ist gelöst, ein warmer Abend legt sich über Hanau. Um 19.02 Uhr rücken alle ein bisschen näher ans Denkmal heran, an die Blumen und Kerzen und an die Bilder der Toten, soweit es der Corona-Abstand erlaubt. Sie schweigen, eine Minute lang. "Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst", hat Ferhat Unvar gepostet. Wenige Wochen bevor er erschossen wurde.

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jtzt kommentar hanau halbes jahr / Foto: Patrick Hertzog / AFP / Illustration: Daniela Rudolf-Luebke

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