Hamburg nach der Bügerschaftswahl:Kummer mit den Kreuzchen

Direktere Demokratie mit absurden Folgen: Das neue Wahlrecht verwirrte viele Hamburger. Einige blieben zu Hause, andere verteilten ihre Stimmen wie auf dem Lottozettel - und ein ganzer Wahlbezirk stimmte ungültig.

Ralf Wiegand, Hamburg

Am Ende erging ein indirekter Aufruf an alle Tüftler und Erfinder in Hamburg. Gesucht wird, möglichst bis zur nächsten Bürgerschaftswahl 2015, ein Gerät, das aus DIN-A4-großen, gebundenen Heften mit ungefähr 36 Seiten und etwa 372 Namen jene heraussuchen und zählen kann, hinter die handschriftlich bis zu fünf Kreuzchen gesetzt wurden. Die Maschine sollte dabei zwischen mehreren Parteien unterscheiden können, wissen, was eine Wahlkreisliste und was eine Landesliste ist - und sie sollte schnell, zuverlässig und kostengünstig arbeiten.

Bürgerschaftswahl - Stimmabgabe

Ein direkteres Wahlrecht kann zu Verwirrung führen: Stimmzettel der Hamburger Bürgerschaftswahl.

(Foto: dpa)

"Wir sollten den Wahlhelfern technische Hilfen zur Auszählung zur Verfügung stellen", sagte der Hamburger Wahlleiter Willi Beiß, als er am Donnerstag endlich das noch immer erst vorläufige Endergebnis der Bürgerschaftswahlen vom vergangenen Sonntag vorstellte: "Den Einsatz eines Wahlgeräts schließt das Gesetz aus", sagte Beiß, "nicht aber den Einsatz eines Zählgeräts." Leider müsse es erst noch entwickelt werden.

Es dürfte eine große Herausforderung für Ingenieure und Programmierer werden. Auch vier Tage nach der Wahl - welche die SPD nun auch vorläufig amtlich bestätigt mit 48,4 Prozent der Stimmen haushoch gewonnen hat - diskutierte Hamburg noch über Sinn und Unsinn des neuen Wahlrechts und dessen zum Teil absurde Folgen. Zwar freute sich Wahlleiter Beiß, dass sich gegenüber der schon am Sonntag errechneten Sitzverteilung keinerlei Verschiebungen mehr durch Überhangmandate oder sonstige Unwägbarkeiten mehr ergeben haben: "Es war eine Punktlandung, auch weil sich der Wähler so eindeutig entschieden hat". Doch der Weg bis zu diesem Ergebnis war lang und beschwerlich.

Viele Details des Hamburger Wahlergebnisses ließen auch am Donnerstag noch Interpretationen unterschiedlichster Art zu. Haben sich die mit 20 Stimmen und damit mehr Macht ausgestatteten Wähler einen Spaß daraus gemacht, zum Beispiel die Letztplatzierte auf der SPD-Landesliste ins Parlament zu wählen, indem sie hinter ihrem Namen kumulierten, was das Zeug hielt? Oder muss man es sehen wie Landeswahlleiter Beiß, der es als "Erfolg" für das neue Wahlrecht ansah, dass die Wähler "die Listenplätze der Parteien so deutlich durcheinandergewirbelt haben"?

Für die Verfechter des neuen, direkteren Wahlrechts vom Verein "Mehr Demokratie" ist die Sache klar: Das Wahlrecht funktioniert, "Geburtswehen gibt es immer", sagte Sprecher Manfred Brandt. Auch die Zahl der ungültigen Stimmen liege letztlich im Rahmen und sogar eher unter den Erfahrungen anderer Länder. 3,1 Prozent der Stimmzettel, errechnete das Statistikamt Nord, seien letzten Endes nicht in die Wertung gekommen, weil sie verfremdet, falsch ausgefüllt, in ihre Einzelteile zerlegt oder einfach blank gelassen wurden. "In Thüringen etwa liegt die Zahl über vier Prozent", sagt Brandt, und dort könnten die Wähler schon länger kumulieren und panaschieren.

Direkt, aber komplex

Dennoch bleiben Fragen. Noch immer staunt Hamburg über die Raffinesse des bisherigen Innensenators Heino Vahldiek, der vom aussichtslosen Listenplatz 31 aus ins Parlament zog: Er stand auf der Doppelseite mit allen CDU-Wahlkandidaten links oben auf der rechten Seite, ein Blickfang. Gleiches gelang auch Jan Quast (SPD). Zufall, weil die Wähler sich verhielten wie Lottospieler, die Zahlen nach einem bestimmten Muster ankreuzen? Oder Absicht, weil die Wähler die Kompetenzen des ehemaligen Verfassungsschutz-Chefs Vahldiek und des Verkehrsexperten Quast nicht missen wollen?

Hamburg

Die Eigenarten des Hamburger Wahlzettels.

(Foto: SZ-Grafik: Michael Mainka)

Landeswahlleiter Beiß glaubt: Diejenigen, die zur Wahl gegangen seien, hätten durchaus verstanden, welche Möglichkeiten sie haben. Nicht gelungen sei hingegen, "die Leute an die Urnen zu bringen". Das direkteste, aber auch komplexeste Wahlrecht hat zur niedrigsten Wahlbeteiligung geführt. Zudem hat es noch nie so lange gedauert, bis das Endergebnis vorlag, und es war auch eine teure Wahl: 2008 musste die Hansestadt für die Abstimmung 14,3 Millionen Euro ausgeben, drei Jahre später waren zunächst 15,5 Millionen veranschlagt. "Ich fürchte aber, dass wir damit nicht auskommen werden", sagte Beiß.

Für die Wissenschaft werden sich aus dieser besonderen Wahl noch viele Erkenntnisse gewinnen lassen. So dürfte das Wahllokal in der Schule am Kirchenhang 33 in Eißendorf bald die Soziologen beschäftigen: Dort, im Wahlbezirk 71006, hatten den ganzen Sonntag über 401 Wähler ihre Stimmen abgegeben - aber weder einer von ihnen noch die Wahlhelfer bemerkten, dass sie ihre Kreuzchen auf den falschen Wahlkreisstimmzetteln machten. Keiner der dort aufgeführten Kandidaten dürfte ihnen bekannt gewesen sein, dennoch häufelten und verteilten die Bürger alle ihre Kreuzchen. Alle 401 Stimmzettel mussten für ungültig erklärt werden - das Wahlergebnis, versicherte der Landeswahlleiter, habe sich dadurch nicht einmal hinterm Komma verändert.

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