Hamburg:Kommt Zeit, kommt Rad

PRESSEBILD DER GRÜNEN HH

"Das Umdenken beginnt jetzt", sagt Anjes Tjarks, Hamburgs grüner Verkehrssenator und Radfahrer aus Überzeugung.

(Foto: Henning Angerer)

Seit einem halben Jahr ist Anjes Tjarks Verkehrssenator in Hamburg, sein Auftrag ist klar: der endgültige Abschied vom Auto als Maß der Dinge. Doch auch er muss erleben, wie schwer es ist, eine Großstadt auf Grün zu drehen.

Von Peter Burghardt, Hamburg

Der Hamburger Senator für Verkehr und Mobilitätswende radelt zum Jungfernstieg, wie vereinbart. Anjes Tjarks von den Grünen war schon überzeugter Fahrradfahrer, bevor er nach der Bürgerschaftswahl im vergangenen Jahr dieses neue Ressort im rot-grünen Senat übernahm, auch wenn die eher autofreudige CDU stänkert, das sei Pose und PR. Es ist eiskalt und nieselt, seine Brille beschlägt, aber das darf einen Fahrradfahrer und Verkehrssenator nicht stören. Er braucht keinen Dienstwagen.

Sein Fahrrad ist schwarz und schick, Tjarks trägt Mantel, Mütze und einen dieser Airbags, die aussehen wie eine Halskrause. Früher war er Lehrer und Fraktionsvorsitzender der Grünen, was beides die Rhetorik schärfte. Seit Juni 2020 versucht der Erziehungswissenschaftler, promovierte Politologe und Vater von drei Kindern, diese Hansestadt umzubauen, damit die 1,8 Millionen Einwohner und ihre Besucher neue Wege finden. "Die Zeit dafür ist gekommen", sagt Tjarks, bald 40 Jahre alt. "Das Umdenken beginnt jetzt."

Der Jungfernstieg hatte sich als Treffpunkt aufgedrängt, das Südufer der Binnenalster mitten im Zentrum verwandelt sich gerade in ein Symbol der Hamburger Mobilitätswende. Traditionell trifft sich hier mehr oder weniger alles, was sich bewegt. Privatautos, Taxis, Busse, U-Bahn, S-Bahn, Alsterdampfer, Fahrräder, Fußgänger, Leihroller. In Serie donnerten auch die Autoposer vorbei, Menschen in aufgemotzten Karossen mit absurd vielen PS. Im Herbst 2020 allerdings schloss die Stadtregierung unter Leitung der Tjarks-Behörde den Jungfernstieg für den motorisierten Individualverkehr. Das sorgt für deutliche Entspannung, beschäftigt Ordnungshüter und spült Bußgeld in die Kassen, weil sich selbstverständlich nicht jeder an das Verbot hält.

In Hamburg entstand vor 200 Jahren "der erste Fahrradclub der Welt" , sagt Tjarks. Das ist nur leicht übertrieben

In der Mitte der Straße stehen nun rustikale Blumenkästen, die für vereinzelten Spott sorgen. Aber man kann sich auf dem Asphalt frei bewegen und nebenan auf der Promenade gut unterhalten, sofern nicht gerade ein Bus des Weges kommt. "Früher haben Sie hier ihr eigenes Wort nicht verstanden, und es stank immer", sagt Anjes Tjarks, "das ist jetzt komplett anders." Die Straßen sind allgemein nicht so voll wie ohne Corona. Die relative Ruhe passt jedenfalls auch deshalb, weil Tjarks erst mal ein paar Dinge erklären möchte, ehe die Tour auf zwei Reifen beginnt.

Er erinnert daran, dass in Hamburg vor 200 Jahren der Altonaer Fahrradclub gegründet worden sei, "der erste Fahrradclub der Welt". Das ist nur leicht übertrieben, der Verein nennt sich Altonaer Bicycle-Club 1869/80. Einst seien die Menschen aus Kopenhagen nach Hamburg gepilgert, "um zu sehen, was eine Fahrradstadt ist", unterrichtet Tjarks. Und 280 Kilometer Straßenbahn habe es hier gegeben, dann verfielen die Radwege, und die Straßenbahnschienen verschwanden zugunsten der Straßen für derzeit 800 000 Autos plus plus Lkws, Motorräder und Pendler. Immerhin wuchs unter Leitung der autofreundlichen SPD auch der öffentliche Nahverkehr.

Inzwischen pilgern Hamburger wie auch Berliner oder Münchner in die Fahrradstädte Kopenhagen und Amsterdam, Tjarks war auch dort. "Wir bauen jetzt das Fahrradnetz wieder aus", sagt er. In der vergangenen Legislaturperiode mit grüner Beteiligung waren es 30 bis 40 Kilometer im Jahr, weniger als versprochen. Tjarks verspricht 60 bis 80 Kilometer im Jahr und "perspektivisch 100, es ist wie immer in der Politik ein Prozess".

Nicht zuletzt wegen solcher Aussichten bekamen die Grünen in Hamburg mehr Stimmen denn je, allerdings sind sie weiterhin nur Juniorpartner der SPD von Bürgermeister Peter Tschentscher. Nicht alle Hanseaten fahren so gerne Rad wie Anjes Tjarks (oder in Bremen der ehemalige Bürgermeister Henning Scherf), der eine oder andere fährt doch lieber mit dem Geländewagen zum Einkaufen.

Ganz einfach ist die urbane Verwandlung schon deshalb nicht, weil die Handelsmetropole Hamburg so wunderbare Gewässer hat, die Alster von Süd nach Nord und die Elbe von Ost nach West sind auch Barrieren. Und trotz der Verkehrsberuhigung wird die Elbe ausgebuddelt und soll die Autobahnquerung A 26 im Hamburger Süden entstehen, der Naturschutzbund Nabu verlieh dem Projekt kürzlich den Umweltsündenpreis "Dinosaurier des Jahres".

Aber der Trend zu einer anderen, zu einer verträglichen und vernetzten Art der Fortbewegung ist da. Immer mehr Hamburgern gehen der Stau, der Qualm und die zugeparkten Wohnviertel auf die Nerven. Anjes Tjarks erzählt von der erweiterten U 5, einem der größten Bauwerke Europas, sie soll unter der Binnenalster verlaufen. Er schwärmt von Elektrobussen und Elektroschiffen, Ökostrom, Digitalisierung, Apps. In Hamburg soll in diesem Jahr der Weltkongress für intelligente Verkehrssysteme stattfinden. Dann fragt Tjarks: "Wollen wir ein bisschen fahren?"

Die Zahl der Radler hat stark zugenommen, aber nicht nur der Radwege wegen

Also, in den Sattel. Tjarks biegt links in den Ballindamm, in die extrabreite Radspur, kürzlich eröffnet. Man sieht das an diesem etwas ungemütlichen Vormittag nicht so sehr, aber die Zahl der Hamburger Radler hat erheblich zugenommen. Vor allem wegen der Viren, vereinzelt sogar wegen des Wetters und auch wegen allmählich besserer Radwege. Gesund ist es eh, falls einen kein Auto rammt.

Der Verkehrssenator steuert vorbei am wuseligen Hauptbahnhof und durch die Baustelle Mönckebergstraße. Er stoppt im Kontorhausviertel. Den Burchardplatz umrahmt ein grandioses Ensemble aus Backsteingebäuden wie dem Chilehaus, doch er ist über die Jahre zum Parkplatz verkommen, mit gelegentlichem Markt und ein paar Fahrradständern. Der Platz soll umgestaltet werden. Tjarks stellt sich vor, wie Kent Nagano zwischen diesen Mauern dirigiert.

Weiter, über Brücken in die Hafencity. Hamburg hat um die 2500 Brücken, mehr als Amsterdam und Venedig, wie jeder Reiseführer weiß. Anjes Tjarks berichtet, dass der Turm der Hauptkirche St. Nikolai mal das höchste Gebäude der Welt war, er könnte jederzeit Stadtrundfahrten leiten. Er zeigt auf eine künftige Pop-up-Lane, das sind rasch geschaffene Radwege, die Radfahrer begeistern, Autofahrer weniger. Vor allem in der Hafencity ist jede Menge Platz, der Stadtteil wurde von Vorgängerregierungen noch mit breiten Straßen ganz für Autos ausgelegt.

Tjarks ärgert sich über die Radpassage einer Elbbrücke, "die hätte ich hinter die Pfeiler gebaut", und freut sich über glatten Belag ein Stück weiter. Kopfsteinpflaster nervt ihn, ein auf dem Radweg abgestelltes Auto auch, so geht es allen Radlern. Er wünscht sich hier und dort eine Spur weniger für Autos und mehr für Fahrräder. "Diese Stadt", sagt er, "könnte noch viel schöner sein", obwohl sie natürlich schon sehr schön ist. Und: "Die Mobilitätswende muss noch cooler werden."

Es ist nicht einfach, eine Stadt, die wie die meisten Städte über Jahrzehnte an Autos angepasst wurde, vom Auto zu entwöhnen. Manchen geht der Wandel zu schnell, anderen zu langsam. Anjes Tjarks fährt durch das Weltkulturerbe Speicherstadt zurück zum Jungfernstieg, die Hände unter den Handschuhen eisig.

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