Hamburg:"Genauer hinschauen"

Im Silvester-Prozess spricht ein Gericht den Angeklagten zwar frei. Doch dieser leidet weiter unter dem falschen Verdacht und der Untersuchungshaft: "Egal, was ich sage - es wird sich nichts daran ändern, was mir widerfahren ist."

Von Thomas Hahn

Behzad S. aus Iran sagt, diese Sache werde nie wieder gut. Trotz des Freispruchs vom Vorwurf, er habe mitgemacht bei den sexuellen Übergriffen auf Frauen in Hamburg an Silvester 2015/16. Trotz der Entschädigung für die Untersuchungshaft, in der er vom 5. Februar bis 18. April 2016 saß. 25 Euro pro Tag stehen ihm zu, aber damit kann er sich nicht freikaufen von der Verunsicherung, die ihn erfasst hat, seit die Polizei ihn in seiner Flüchtlingsunterkunft festnahm. "Ich habe das Fünffache investiert, um ein Leben in Frieden zu führen, und das ist dabei rausgekommen." Die Ehe ist kaputt, die Kinder haben Angst vor der Polizei. Und Behzad S. fragt sich: "Was habe ich verbrochen?"

Am Donnerstag ist am Landgericht Hamburg der wohl letzte Prozess zu den schlimmen Silvester-Vorkommnissen vor gut 15 Monaten an der Reeperbahn zu Ende gegangen. Der Freispruch von Behzad S. war dabei keine Überraschung mehr. Selbst Oberstaatsanwalt Jörg Keunecke hatte tags zuvor in seinem Plädoyer ausgeführt, dass S. nach der Beweislage nicht als Mittäter infrage komme. Die Vorsitzende Richterin führte in ihrer Urteilsbegründung aus, dass eine Mischung aus irrtümlicher Zeugenerinnerung und Suggestivfragen von Ermittlern einen Verdacht erhärtet hätten, der nicht zu halten sei. Und damit setzte es die nächste Ohrfeige für einen Aufklärungseifer, der dringend Täter braucht.

"Egal, was ich sage - es wird sich nichts daran ändern, was mir widerfahren ist."

Die Silvesternacht 2015/16 ist ein deutsches Trauma geworden. Große Gruppen junger Männer nutzten damals den Schutz des Fest-Gedränges in Köln, Hamburg und anderen Städten, um Frauen sexuell anzugehen und zu bestehlen. Auch im Prozess gegen Behzad S. lebte das Martyrium jener Frauen wieder auf, die damals umzingelt, festgehalten, unsittlich angefasst wurden. Ein Aufschrei ging damals durch Medien und Gesellschaft. Weil die Gewalt von Männern aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum ausging, verschärfte sich die Stimmung gegen Flüchtlinge. Mit großem Fleiß arbeitete die Polizei an der Aufklärung. Allein in Hamburg gab es nach über 400 Anzeigen 245 Verfahren.

Verurteilungen? Kaum. In Hamburg sogar gar keine, die direkt mit dem Reeperbahn-Chaos zu tun hatte. Die Bilder eines Partyfotografen, der von einem Balkon aus das Menschengedränge vor den Clubs der Großen Freiheit abgelichtet hatte, machte den Ermittlern kurz Hoffnungen. Auch Behzad S. identifizierten sie damit. Aber die wenigen Anklagen endeten mit Freisprüchen.

In ihrem Urteil im Verfahren gegen Behzad S. sagte die Richterin: "Wenn man betrachtet, wie dünn die Beweislage war, kann man sich fragen, wie der Angeklagte in Untersuchungshaft kommen konnte." Verteidiger Shahryar Ebrahim-Nesbat mahnte: "Man muss trotz medialem Druck genauer hinschauen." Die Staatsanwaltschaft wiederum verwahrte sich dagegen, vorschnell ermittelt zu haben. Zum Vorwurf, die Polizei habe mit ihrer Vernehmungspraxis Zeugenaussagen beeinflusst, sagte eine Sprecherin: Ob in den vielen Ermittlungsverfahren "einzelne polizeiliche Fragestellungen zu beanstanden wären, wird im jeweiligen Einzelfall geprüft". Und Behzad S.? Der sagte: "Egal, was ich sage - es wird sich nichts daran ändern, was mir widerfahren ist."

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