Das Politische Buch:Gipfelschutz vor Bürgerschutz

Das Politische Buch: 7./8. Juli 2017: Szenen aus Hamburg, die in Erinnerung geblieben sind.

7./8. Juli 2017: Szenen aus Hamburg, die in Erinnerung geblieben sind.

(Foto: Markus Schreiber/AP)

Wissenschaftler haben sich die Gewaltszenen beim Hamburger G-20-Gipfel 2017 noch mal genau angeschaut. Ihr Fazit: Die Linie der Polizei war institutionell vorgegeben - aber auch fahrlässig.

Rezension von Rudolf Walther

Seit dem ersten G-20-Gipfeltreffen 1999 finden die Proteste gegen diese Veranstaltung nicht nur weltweit Beachtung, sondern auch eine zunehmende internationale Beteiligung, die nach dem Tod eines Protestierenden während eines G-8-Gipfels in Genua (2001) zu einem überall beachteten Skandal und vielerorts zu einer Protestwelle führten. Bereits weit vor Beginn des Hamburger G-20-Gipfels im Jahr 2017 konkurrierten in den Medien Prognosen und Warnungen vor Steine werfenden Chaoten von polizeilicher Seite, während die Öffentlichkeitsarbeit der Organisationen des Protests erwartende "Polizeigewalt" und "Polizeiterror" beschworen. Das setzte eine Stimmung der gegenseitigen Bezichtigung von Polizei und Protestierenden in Gang, die sich wechselseitig unterstellten, eine Eskalationsdynamik zu verursachen.

Diese Stimmung verdichtete sich im Laufe der Proteste im Juli 2017 zu sich "selbsterfüllenden Prophezeiungen", wonach beide Seiten einander vorwarfen, jeweils allein Verantwortung und Schuld an der Gewaltexplosion im Laufe des Gipfeltreffens zu tragen. Ein erhellender Sammelband mit dem Titel "Eskalation" enthält nun 24 Beiträge zu den Protesten. Die Aufsätze stammen zumeist von jüngeren Sozialwissenschaftlern, wissenschaftlichen Mitarbeitern, Doktoranden, Studierenden und Universitätsprofessoren. Sie ergeben insgesamt eine vielstimmige, rundum überzeugende, umfassende und empirisch verifizierbare Darstellung des äußerst komplexen Protestgeschehens rund um das Gipfeltreffen.

"Wasserwerfer haben keinen Rückwärtsgang"

Das zum Teil sehr einseitige Echo auf die Proteste in den Medien und in der Politik verschärfte die Eskalationsdynamik ohne Zweifel und wirkte noch während der Proteste als Brandbeschleuniger. Genauso beeinflussten auch die Drohung einzelner militanter Protestgruppierungen mit brachialer Zerstörung, für die es jedoch keine belegbaren strategisch-realistischen Planungen gab oder vergleichbare, rhetorisch-provokative Äußerungen von der Gegenseite die politische Spannung wie die von Hartmut Dudde, Einsatzleiter der Hamburger Polizei: "Wasserwerfer haben keinen Rückwärtsgang", oder auch des damaligen Lokalpolitikers Olaf Scholz: "Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise"; oder die Parole der Polizeigewerkschaft zur "Hamburger Linie": "Null Toleranz, Störer sofort identifizieren und festnehmen, niedrige Einschreitschwelle!"

Das Politische Buch: Einzelne Chaoten oder geplanter Angriff auf die Staatsgewalt? Die Gerichte sind noch immer mit der Aufarbeitung der Gewalt beim Hamburger Gipfel beschäftigt.

Einzelne Chaoten oder geplanter Angriff auf die Staatsgewalt? Die Gerichte sind noch immer mit der Aufarbeitung der Gewalt beim Hamburger Gipfel beschäftigt.

(Foto: Michael Probst/AP)

Auch die Wahrnehmung der Gegenseite durch die Polizei mit der grobschlächtigen Unterscheidung von "Gefährdern/Störern" und "Friedlichen" erscheint Protestforschern gelinde gesagt "unterkomplex" oder schlicht fahrlässig. Diese Unterscheidung vergröbert die soziale Zusammensetzung, Herkunft und politische Orientierung der Protestierenden zur Karikatur des omnipräsenten Chaoten. Die SZ kam in einem Kommentar zu den Protesten in Hamburg vom 2. Juli 2017 zum Schluss, "dass die harte Linie der Polizeiführung maßgeblich zur Eskalation des Protests beigetragen hat", ebenso wie übrigens die Homogenisierung und Polarisierung des Twitter-Diskurses.

"Autoritarismus der Fehlerlosen" bei der Polizei?

Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften an der "Akademie der Polizei" in Hamburg, vertritt in seinem Beitrag zur "polizeilichen Dominanzkultur und sozialen Auflehnung" die These, dass mangelnde Selbstkritik und "Autoritarismus der Fehlerlosen" bei der Polizeiführung verhindert haben, einen rechtlich gangbaren Weg zu finden zwischen "Bürgerpolizei" und "Staatspolizei". Dazu zählt auch die einseitige Konzentration der Polizei auf die Vorfahrt des Schutzes und der Sicherheit des Gipfeltreffens auf Kosten von Bürgerschutz und der polizeilichen Aufgabe, die Freiheiten aller Bürger, einschließlich ihrer Versammlungsfreiheit, zu wahren. Zu dieser Vorfahrt für das Gipfeltreffen und seine Teilnehmer mit Privilegien für deren Bewegungsfreiheit trug allerdings Hamburgs juristisch und institutionell "verpolizeilichtes" (Rafael Behr) Versammlungsrecht ganz wesentlich bei.

Im Interview des Herausgebers Stefan Malthaner mit Jan Philipp Reemtsma, dem Philologen und Nestor der Gewaltforschung, warnt dieser vor der Falle, in Debatten über Gewalt durch "Verrätselung des Offensichtlichen und der Frage nach dem, was dahintersteckt, nach den Gründen und Motiven der Beteiligten" sich das Offensichtliche "vom seelischen Leibe" zu halten, nämlich, dass "Gewalt eine eigene Attraktivität haben kann, die keiner Gründe oder Motive jenseits des Gewalthabens, Gewalthandelns und des damit verbundenen Machtzuwachses" bedarf. Denn: "Gewalt ist eine attraktive Lebensform", wie Reemtsma schon 2015 in einem Vortrag ausführte.

Das Politische Buch: Stefan Malthaner/Simon Teune (Hg.): Eskalation: G 20 in Hamburg, Protest und Gewalt. Hamburger Edition, Hamburg 2023. 294 Seiten, 25 Euro. E-Book: 22,99 Euro.

Stefan Malthaner/Simon Teune (Hg.): Eskalation: G 20 in Hamburg, Protest und Gewalt. Hamburger Edition, Hamburg 2023. 294 Seiten, 25 Euro. E-Book: 22,99 Euro.

(Foto: Hamburg Edition)
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