Hamburg:Dämon aus dem Untergrund

Hohe Dioxinwerte im Naturschutzgebiet Boberger Niederung

Szenen wie aus einem Katastrophenfilm: Mitarbeiter einer Spezialfirma nehmen in Schutzanzügen Bodenproben im Naherholungsgebiet Boberger Niederung in Hamburg.

(Foto: Bodo Marks/dpa)

Ein Dioxin-Fund in höchster Konzentration verunsichert die Anwohner eines Naturschutzgebiets in Hamburg.

Von Peter Burghardt, Hamburg

Sie dachten, das Ungetüm sei gezähmt. Hamburgs Dioxin-Skandal, vergraben und versiegelt? Offenbar nicht, obwohl manches so gut klingt. "Energieberg", nennt sich die ehemalige Mülldeponie in Georgswerder auf der Elbinsel Wilhelmsburg. In diesem Hügel lagern 200 000 Tonnen hochgiftiger Abfall, der bei Regen ins Grundwasser sickerte, ehe die Erhebung nach 1984 abgedichtet wurde wie später die Atomruine von Tschernobyl. Heute stehen obendrauf Windräder und Solaranlagen, schöner Blick. "Der gebändigte Drache", heißt es. Doch ein Stück weiter ist das Monster wieder erwacht.

Deshalb füllen an einem Abend im November 2018 besorgte Anwohner die Aula der Stadtteilschule Mümmelmannsberg einige Kilometer weiter nordöstlich. Sie wollen wissen, wie gefährlich der neue Fund ist. Bei Routineproben im Naturschutzgebiet Boberger Niederung wurde an einer Böschung Dioxin in einer Konzentration entdeckt, die den Grenzwert 700 fach übersteigt. Das seien "die höchsten Werte, die in Hamburg je gefunden wurden", bestätigt Umweltsenator Jens Kerstan von den Grünen dem entsetzten Publikum. Besonders dramatisch klingt der Rekord in dieser Hansestadt, die mit Dioxin traumatische Erfahrungen hat.

Ein alter Dämon, Hamburg hatte ihn fast vergessen. Vier Hektar sind auf einmal mit Gittern abgesperrt, Experten durchkämmen das Areal. Was wurde da unten alles verseucht? Wann? Von wem?

Sicher ist, dass hier extrem toxische Substanzen auf ein beliebtes Naherholungsgebiet treffen. Die Boberger Niederung wuchert idyllisch unterhalb von Straße und Siedlung, mit Weihern, Wegen und Düne. Statt Spaziergängern sind nun Spezialisten in Schutzanzügen wie im Katastrophenfilm unterwegs. Denn die Verbindung namens Dioxin kann selbst in winzigsten Dosen schwere Gesundheitsschäden verursachen, darunter Krebs. Die Behörden ahnen auch, woher das Zeug kam: von der Firma Boehringer.

Nach dem Verursacher wird mit jahrzehntealten Luftbildern gefahndet

Der chemische Fingerabdruck passe eindeutig zur Pflanzenschutzproduktion, berichtet Kerstan. Unweit der Boberger Niederung produzierte die Chemiefabrik in Moorfleet das Schädlingsbekämpfungsmittel Lindan - und entsorgte seine Altlasten unter anderem auf dem Giftberg Georgswerder, bevor die Nachricht Ende 1983 die Runde machte. 1984 wurde die Boehringer-Filiale geschlossen und ihr enorm kontaminiertes Betriebsgelände eingekapselt, heute ist es ein Lkw-Parkplatz. Hunderte Arbeiter litten und leiden unter den Folgen der Katastrophe, um die es still geworden war - bis zuletzt. Wurde Dioxin auch in die Boberger Niederung gekippt, und jetzt flog das auf, zufällig?

Eigentlich war turnusgemäß nach möglichen Schwermetallen gesucht worden, als 720 Mikrogramm Dioxin pro Kilogramm auffielen. Als zulässig gelten ein Mikrogramm, auf Spielplätzen nur 0,1 Mikrogramm pro Kilo. Die Wohngebiete liegen 150 Meter entfernt. Deswegen sind Vertreter der rot-grünen Behörden bei dieser Infoveranstaltung in Mannschaftsstärke vertreten, was die einen Zuhörer beruhigt und die anderen erschreckt. "Wie ernst ist die Sache wirklich, wenn hier so ein Aufgebot ist?", fragt eine Frau. "Was wir wissen", sagt Senator Kerstan, "haben wir gesagt."

Gezeigt wird ein Luftbild aus dem Jahr 1962, auf dem im aktuellen Freizeitgebiet eine Bautrasse an den Bahnschienen zu erkennen ist. Anscheinend wurde der Industrieabfall von irgendwem abgeladen, nachher wuchsen Bäume und Gras drüber. Die Polizei ermittelt, Tatverdacht: besonders schwere Umweltstraftat. "Das ist die Schweinerei der Sechzigerjahre", sagt ein Aktivist, er verteilt ein maschinenbeschriebenes Mümmelmannsberger Mieterblatt von 1984, das plötzlich brandneu wirkt. Überschrift: "Dioxin bedroht auch uns!!!" Der Bericht erzählt, wie sich Dioxin im Fettgewebe ablagert. Der Autor schlägt vor, die Bewohner 2019 untersuchen zu lassen.

Wie weit sei das Dioxin wohl in all den Jahrzehnten gewandert, will jemand wissen. "Wir fühlen uns verarscht." Ein Boberger Rodelberg werde schon lange "Arsenberg" genannt, sagt eine Frau. Eine Mutter hat Angst um ihren kleinen Sohn, der am Sperrgebiet gespielt hat. Dioxin, erläutert eine Toxikologin, werde hauptsächlich über die Nahrung aufgenommen, weshalb auch Fische, Beeren und Pilze geprüft werden. Die Ergebnisse sollen in ein paar Wochen feststehen, für Januar ist die nächste Bürgerrunde geplant.

Im Saal sitzt auch Jens Kiesel vom Bergedorfer Anglerverein, der einen der Boberger Seen seit 1963 pachtet. Karpfen, Schleien, Zander, Aale. Erst seit Kurzem ist Angeln verboten, Plakate hängen aus, wegen des Dioxins. Kiesels Gefühl? "Mulmig." Falls Tests ergeben, dass die Fische belastet sind, "dann werden mit Sicherheit einige Kollegen den Arzt aufsuchen."

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