Süddeutsche Zeitung

Hambacher Forst:Über allen Wipfeln ist Lärm

  • Mit mehr als 2000 Polizisten ist die Räumung des Hambacher Forsts einer der größen Polizeieinsätze in der Geschichte Nordrhein-Westfalens.
  • Offiziell ist der Grund für den Einsatz, dass die Baumhäuser der Waldbesetzer nicht genehmigt sind und eine Brandgefahr darstellen.
  • Umweltverbände sprechen von einer "überflüssigen Provokation".

Von Jana Stegemann und Christian Wernicke

Aller Anfang ist schwer, manchmal gilt das auch für den Anfang vom Ende: Nur 80 Meter weit dringt der rote Kranwagen bis zum Spätnachmittag vor, manchmal setzt der schwere Dreiachser mit Hebebühne sogar zurück, um Platz zu machen für anderes schweres Gerät. Etwa für den Sattelschlepper, der mit seinem Greifarm eine Barrikade aus dem Weg räumt und, nach mehr als fünf Stunden Einsatz, die ersten Baumstämme aus dem Hambacher Forst karrt. Oben fluchen zwei Baumbesetzer, der Motor heult auf, dann ist wieder Waldesruh. Polizisten, RWE-Mitarbeiter, Journalisten, alle schauen schweigend zu. An der Lichtung klickt die Kamera eines Fotografen.

Der Tag X ist da, die Räumung hat begonnen. Mehr als 3000 Polizisten hat der Staat am Donnerstag aufgeboten, um 120, vielleicht 150 Besetzer aus ihren 51 Baumhäusern zu holen. Bis zum Abend nehmen sie sechs Aktivisten in Gewahrsam, zu jedem Baumhaus gibt es eine Akte, inklusive GPS-Daten. Der Hambacher Forst, Symbol für den Widerstand gegen Braunkohle und Klimawandel, mutiert zum Schauplatz für einen der größten Polizeieinsätze in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. Behelmte Hundertschaften, Feuerwehr, Sprengstoffexperten, HIT-Teams. HIT steht für Höheninterventionsteams, Spezialeinheiten, die in 20 Metern Höhe oder noch höher die Waldbesetzer aus den Wipfeln holen sollen. Zwei der Experten stehen am Nachmittag neben ihrem Mannschaftswagen und blicken zurück ins Geäst: "Das wird hier ewig dauern." Wochen, vielleicht mehr als einen Monat.

Jeder falsche Handgriff in 15 oder 20 Metern Höhe kann Leben kosten

Immerhin, es bleibt friedlich. Das befürchtete "Wackersdorf der Braunkohle" erlebt das Rheinische Revier an diesem Tag X nicht. Kein Tränengas, keine Knüppel, zunächst auch keine Chaoten, die mit Zwillen auf Beamte schießen. Später aber meldet die Aachener Polizei Attacken aus anderen Ecken des 200 Hektar großen Waldes. Und gegen 14.45 Uhr hallen zwei Explosionen durch den Forst. Zwei Kampfstoffspezialisten jagen zwei verdächtige Installationen in die Luft, wahrscheinlich wieder nur Attrappen: halbvolle Feuerlöscher mit Kabeln dran, Bottiche mit unbekannter Flüssigkeit und einem aufmontierten Handy. Das Restrisiko, es könnten doch Bomben sein, will niemand eingehen. Der Einsatz ist auch so lebensgefährlich, für alle: Jeder falsche Handgriff in 15, 20, 22 Metern Höhe kann ein Leben kosten.

Rein formal, rein offiziell ist die Räumung eine Rettungsaktion. So sagt es auch der Beamte der Stadt Kerpen, der den ersten Besetzern frühmorgens per Megafon erklärt, warum er und die vielen Polizisten gekommen sind: "Es besteht Gefahr für Leib und Leben", ruft Baudezernent Joachim Schwister, "ich untersage Ihnen die weitere Nutzung dieser Baumhäuser." Denn die seien nun mal "bauliche Anlagen" - und verstießen eklatant gegen Bestimmungen des Brandschutzes, lautet seine Begründung.

Dezernent Schwister gehorcht einer Weisung der CDU/FDP-Regierung in Düsseldorf. Weder die Stadt Kerpen noch der Landkreis Düren wollten diese Räumung. Nicht jetzt, vier Wochen vor der wahrscheinlichen Rodung. Das könne seine Region "für Wochen zu einem Mekka des Widerstands" machen, schimpft auch Wolfgang Spelthahn, der Landrat von Düren. Doch nach sechs Jahren Katz-und-Maus-Spiel im Hambacher Forst fand NRWs oberste Baubehörde ganz plötzlich und ganz unkompliziert zwei legale Gründe für den Abriss der Baumhäuser: fehlender Brandschutz und Gefahrenabwehr. Auf die Idee kamen die Experten um NRW-Polizeichefin Daniela Lesmeister bei einer Ortsbegehung am 27. August, die von 400 Polizisten geschützt wurde.

Eine Genehmigung für die Baumhäuser gibt es nicht

Lesmeister und anderen fiel auf, dass in den Baumhäusern Küchen und Heizungen waren. Die Räumung sei daher "getrennt" von der geplanten Rodung des Forstes durch den Energiekonzern RWE zu sehen. Brandschutz dulde "überhaupt keinen Aufschub", pflichtet Jan Heinisch (CDU) bei, Staatssekretär im NRW-Bauministerium. "Die Objekte dienen nicht nur der vorübergehenden Bleibe, sondern werden dauerhaft als Wohnungen genutzt. Aus Bretterbuden sind Häuser in Bäumen geworden." Also erklärte Heimat- und Bauministerin Ina Scharrenbach (CDU) am Mittwochnachmittag per Erlass die Baumhäuser zu "baulichen Anlagen". Damit sind sie plötzlich genehmigungsbedürftig.

So eine Genehmigung sei nie erteilt worden und werde auch nie erteilt werden, so Heinisch. "Weil Gefahr in Verzug für Leib und Leben besteht, mussten wir den Abriss der Baumhäuser unverzüglich anordnen. Keiner von uns möchte verantworten, dass Aktivisten wie lebendige Fackeln im Wald verbrennen, weil es keine Zufahrtswege für die Feuerwehr gibt." Er räumt ein, dass dies "ein ungewöhnlicher Vorgang" sei. Schließlich duldet Düsseldorf die Häuser seit 2014 und konnte nicht einmal im Hitzesommer 2018 eine Waldbrandgefahr ausmachen.

Aber jetzt ist alles anders. Aus dem Bauministerium heißt es, man habe im letzten Oktober in Dortmund den Hochhauskomplex "Hannibal" mit etwa 750 Bewohnern ebenfalls unverzüglich aus brandschutzrechtlichen Gründen geräumt. Dieselben Maßstäbe gelten nun auch für den Hambacher Wald. Nur, dass die Baumhausbesetzer statt der üblichen vier Stunden zum Zusammenpacken nur eine Stunde Zeit bekamen, sagt Heinisch.

In den sozialen Netzwerken riefen die Besetzer Gleichgesinnte dazu auf, in den Wald zu kommen. Am Verwaltungsgericht Köln gingen mehrere Eilanträge ein, die die Räumung in letzter Minute noch juristisch stoppen könnten. Das Verwaltungsgericht Köln lehnte einen ersten Eilantrag am Donnerstagabend ab. Die Räumung sei rechtmäßig. Umweltverbände sprechen von "überflüssiger Provokation", das Buirer Anti-Kohle-Bündnis bewertet das Vorgehen im Hambacher Wald als "absurd" und befürchtet eine Eskalation. Die Landesregierung mache sich zum "Brandstifter" und heize den Konflikt um die Kohle an, sagte der Präsident des Deutschen Naturschutzringes, Dirk Niebert, der mit Wirtschaft und Politik über einen Zeitplan für den Kohleausstieg verhandelt.

An einer Demonstration gegen die Räumung nahmen am Donnerstag nach Angaben der Veranstalter mehr als 1000 Menschen teil.

Offen blieb, ob die Umweltverbände nun aus Protest gegen die Räumung aus der Kohlekommission in Berlin ausscheiden werden. Auch Antje Grothus, die Sprecherin der örtlichen Anti-Kohle-Initiative "Buirer für Buir", quält sich mit der Frage: "Ich weiß es noch nicht."

Um 11:20 fällt das erste Besetzer-Bauwerk

Die neue Strategie der Landesregierung erfordert auch, dass die Polizei den Wald jetzt wochenlang bewachen muss, um eine Rückkehr der Umweltaktivisten und den Wiederaufbau von Baumhäusern bis zur tatsächlichen Rodung ab Oktober zu verhindern. Sind nun alle Baumhäuser in Deutschland plötzlich genehmigungspflichtig? Nein, sagt Staatssekretär Heinisch. "Nur die, die dauerhaft als Wohnung genutzt werden."

Während der Staatssekretär am Donnerstagmorgen in Düsseldorf die abstrakte Feuergefahr erörtert, wird es im Forst brandgefährlich: Die Polizei hat eine Sitzblockade von 16 evangelischen Christen aufgelöst, auch mehrere der acht Pfarrer werden aus dem Wald getragen. Der Kran fährt vor, und Freddie, der Solo-Aktivist auf dem zehn Meter hohen Holzpfahl, droht, sein Leben aufs Spiel zu setzen: "Ich habe das Seil abgelegt, ich bin nicht gesichert." Überhaupt wolle er erst einmal eine schriftliche Räumungsverfügung sehen, "so kriegt ihr mich hier nicht weg". Später klettert Freddie übers Seil hinüber aufs sicherere Tripod, wo der bärtige Balto im Parka das Partisanenlied anstimmt und Cacu im Arm hält, seine Freundin. Um 11.20 Uhr, exakt drei Stunden nach Räumungsbeginn, fällt mit dem Pfahl das erste Besetzer-Bauwerk im Forst.

Die Rodung scheint zu beginnen

Zwei Stunden später hat es Freddie tiefer im Wald über Seile bis zum nächsten Baumhaus geschafft. Cacu und Balto werden abgeführt. Rauf zur Straße, wo die mehr als hundert Mannschaftswagen stehen. Es ging schnell. Sie haben sich nicht gewehrt, als das HIT der Polizei sie auf ihrem Tripod ergriff. Balto, der Physikstudent aus Berlin, ist als erster eingestiegen in den Metallkorb am Arm des Krans. Barfuß geht er aus dem Wald, Cacu lässt sich tragen. Die Beamten lösen die Kabelbinder um Cacus Handgelenke, sie hält ihre Fingerkuppen auf das Gerät zur Identifizierung. Balto darf telefonieren. Beide lächeln. Sie sehen nicht so aus, als seien sie hier heute die Verlierer.

Am späten Nachmittag fangen die Arbeiter von RWE an, eine Schneise zu schlagen, in Richtung Oaktown, dem nächsten Baumdorf. Ein Baum nach dem andern fällt, die Räumung geht weiter. Und auch die Rodung scheint zu beginnen.

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Quelle:
SZ vom 14.09.2018/csi
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