Süddeutsche Zeitung

Hamas im Gazastreifen:Schockwellen aus Ägypten

Die Umbrüche in Ägypten wirken sich auf den Gazastreifen aus. Die dort regierende Hamas hatte auf die Muslimbrüder gesetzt - deren Entmachtung stürzt nicht nur die Islamisten in die Krise. Das gesamte Wirtschaftssystem des Palästinensergebietes ist in Gefahr.

Von Peter Münch, Rafah

Das Tor zur Welt ist ein doppelter Bogen aus Beton, der sich in Rafah über die Straße spannt. Hinter dem Tor lag früher die Hoffnung, der Grenzübergang führt vom Gazastreifen nach Ägypten. Doch seit auch drüben auf der anderen Seite die Welt aus den Fugen geraten ist, ist die Hoffnung der hilflosen Wut gewichen. Ein Grenzübertritt ist zum Glücksspiel geworden - mal ist sie offen, mal geschlossen. Zwischen einem Berg von Koffern, umringt von anderen Gestrandeten, steht deshalb Ibrahim Awad und sagt auf Deutsch mit leichtem hessischen Einschlag: "Wir fühlen uns hier von allen Seiten im Stich gelassen."

In Rafah, am südlichen Ende des Gazastreifens, lässt sich am deutlichsten erspüren, welche Schockwellen die Umbrüche in Ägypten in das Palästinensergebiet geschickt haben. Vor einem Jahr, als in Kairo die Muslimbrüder die Macht übernahmen, hatte das die Hamas hier noch mit Freudenschüssen gefeiert. Sie hat fast alles auf diese eine Karte gesetzt, hat sich mit Syrien überworfen und mit Iran - doch nun wurden die ägyptischen Gesinnungsgenossen mit Schimpf und Schande aus ihren Ämtern vertrieben. Die Islamisten-Herrscher von Gaza hat das in die wohl tiefste Krise seit ihrer Machtübernahme 2007 gestürzt.

"Das ist die Ruhe vor dem Sturm"

Die neue Führung in Kairo hat die Hamas zu Staatsfeinden erklärt. In den ägyptischen Medien werden sie als "militanter Arm der Muslimbrüder" bezeichnet, ihre Kämpfer sollen mitverantwortlich sein für die blutigen Unruhen im ganzen Land und für die Instabilität auf dem Sinai. Die Komplizenschaft mit dem abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi zahlt das ägyptische Militärregime der Hamas nun mit allen möglichen Mitteln heim - mit einem Katz- und Mausspiel am einzigen Grenzübergang ebenso wie mit der Schließung der Schmuggeltunnel, die jahrelang wegen der israelischen Blockade die Versorgung der 1,7 Millionen Einwohner sicherten.

Wer also in diesen Tagen des Umbruchs von Erez im Norden bis nach Rafah im Süden durch den nur gut 40 Kilometer langen Gazastreifen fährt, erlebt einen Landstrich unter höchster Anspannung. An der Nord-Süd-Verbindung, der Salahuddin-Straße, liegen kilometerweit die Baustellen brach. Hier sollte mit Geld aus Katar die Infrastruktur verbessert werden, doch nun mangelt es wegen der Tunnelsperrung an Baumaterialien. In manchen Läden sind die Eisengitter heruntergelassen, weil es nichts mehr zu verkaufen gibt, und auch an den meisten Tankstellen ist der Sprit aus Ägypten ausgegangen. Das von Israel gelieferte Benzin ist mehr als doppelt so teuer, das kann sich kaum einer leisten. Deshalb herrscht auf den Straßen nur mäßiger Verkehr.

"Das ist die Ruhe vor dem Sturm", sagt einer, dessen Name besser nicht genannt werden soll, weil er den Sturz der Hamas herbeisehnt. Wenn das stimmt mit dem Sturm, dann sind in Rafah wohl schon die ersten Winde zu fühlen. Weit mehr als tausend Wartende drängen sich hier an der Grenze, die seit dem Wochenende wieder einmal geöffnet ist.

Doch nicht mehr 1200 Menschen am Tag wie früher werden abgefertigt, sondern höchstens noch 300. Deshalb wird geschrien, geschubst und geschlägert, die Stimmung ist äußerst gereizt, und selbst die Sicherheitskräfte in ihren schwarzen Uniformen können nicht verhindern, dass vorne am Schalter ein paar aufgebrachte Männer eine Scheibe einschlagen, um ihrer Wut Luft zu machen.

Ibrahim Awad ist keiner, der es bei solchen Kämpfen weit bringt, mit einem Stapel roter Pässe in der Hand steht er im Abseits. "Wir stecken fest", sagt er, "seit einer Woche schon kommen wir jeden Tag hierher." Mit seiner Frau und den Kindern will er zurück nach Hause, und zu Hause ist er in Darmstadt. Vor 29 Jahren ist er vom Gazastreifen aus nach Deutschland gezogen, er hat dort studiert und promoviert. "Wir sind nach Gaza gereist, weil mein Schwiegervater todkrank ist", sagt. Nun weiß er nicht, wie er wieder rauskommen soll bei diesem Chaos an der Grenze.

Nur ein paar hundert Meter entfernt von diesem aufgeheizten Trubel herrscht dagegen ungewohnte Ruhe. Fast bedrückend ist die Stille, zwischen riesigen Maulwurfhügeln huschen nur noch vereinzelt ein paar Menschen hindurch, einsam surrt ein Generator. Auf einer fleckigen Matratze direkt neben einem mit Holz abgestützten Tunneleingang liegt Emad Schaher und hängt den guten alten Zeiten nach. Die Sonnenbrille hat er hochgeschoben auf den kantigen, kahlen Schädel, auf seiner Brust prangt der Schriftzug "Prada", draußen steht seine silberne Limousine ohne Nummernschild. Gestern war Emad Schaher noch einer der Könige von Rafah. Heute ist er wütend auf die halbe Welt und vor allem auf die Ägypter und die Hamas.

"Meinetwegen können auch die israelischen Besatzer zurückkommen"

Tonnenweise hatte er in den vergangenen Jahren Zement von Ägypten nach Gaza geschmuggelt. Die beiden Tunnel, die er stolz sein Eigen nennt, haben ihn reich gemacht - doch nun kann er von seinem Matratzenlager aus beobachten, wie drüben auf der anderen Seite der Grenze die Bulldozer am Werk sind. Die Militärführung in Kairo will auf dem unruhigen Sinai aufräumen und dabei auch das Schmuggelgeschäft unterbinden. Deshalb werden die Tunnel mit Abwasser geflutet oder die Eingänge zugeschüttet. Von den früher einmal 1200 Tunneln sind nur noch ein paar wenige in Betrieb. "Bald wird es keinen einzigen mehr geben", sagt Emad Schaher und wirft einen traurigen Blick hinüber zum Eingang seines stillgelegten Stollens.

Ein Ende der Tunnelwirtschaft ist jedoch nicht nur ein Schlag für Männer wie Emad Schaher - bedroht ist dadurch das ganze System, auf dem Gaza aufgebaut ist. Die Tunnel sind nicht nur die Lebensader, durch die von Nahrungsmitteln bis zu schweren Waffen alles in den Gazastreifen strömte. 15.000 bis 20.000 Menschen haben auch direkt von der Schmuggelwirtschaft gelebt, ihnen droht nun ebenso die Arbeitslosigkeit wie all den anderen, die mangels Materialnachschub nichts mehr zu tun haben.

Mit der Wut über die rapide Verschlechterung der Lage hält kaum noch einer hinter dem Berg. "Meinetwegen können auch die israelischen Besatzer zurückkommen", sagt Emad Schaher, "mir ist es egal, wer uns regiert, wir wollen nur in Würde leben, Jobs haben und Geld verdienen." Wer sich umhört in Rafah im Umfeld der Tunnel, kann in ungewohnter Offenheit Klagen und Anklagen hören gegen die Hamas, die seit sechs Jahren mit eiserner Faust den Gazastreifen beherrscht. Nun jedoch droht ihr in der Krise die Kontrolle zu entgleiten.

Die Opposition formiert sich auch im Internet, wo eine Gruppe junger Aktivisten nach ägyptischem Vorbild den Aufstand probt. "Tamarod Gaza" nennen sie sich, und die Rebellion propagieren sie in einem Youtube-Video, in dem sie der Hamas Folter, Korruption und Diebstahl vorwerfen. Aufgerufen wird zum gewaltlosen Widerstand. "Ihr werdet nach dem 11. November nicht mehr an der Macht sein", drohen die Rebellen. Es ist ein Datum mit hohem Symbolgehalt - der 11. November ist der Todestag von Jassir Arafat.

Bis dahin ist allerdings noch Zeit, und vielleicht wirkt Aladin Rafati deshalb so gelassen. "Wenn die Menschen unter Druck geraten, wird sich ihre Wut gegen Israel richten", glaubt er. Rafati ist der Wirtschaftsminister der Hamas-Regierung, er thront hinter einem ausladenden Schreibtisch, auf dem ein Casio-Taschenrechner liegt und ein Kalender von 2012. Der neuen Krise will er mit den alten Rezepten begegnen. "Wir sind schon durch härtere Zeiten gegangen", sagte er, "die Leute sind kreativ genug, um damit fertigzuwerden."

Dabei müssten doch auch ihn eigentlich die Zahlen einer Studie alarmieren, die sich mit den Folgen der Grenz- und Tunnelschließungen nach dem ägyptischen Umsturz beschäftigt. "230 Millionen Dollar haben wir dadurch innerhalb von 40 Tagen schon verloren", zitiert Rafati, "170.000 Menschen haben ihre Arbeit verloren."

Überdies muss er einräumen, dass die Hamas auf 40 Prozent ihrer gesamten Einnahmen verzichten muss, weil die Steuern auf die Tunnelgüter im Haushalt fehlen. Die Gehälter der insgesamt 50.000 öffentlichen Bediensteten können deshalb nicht mehr pünktlich ausgezahlt werden. "Wir sind zwei Wochen im Verzug", sagt der Minister - und lächelt siegesgewiss. Dann erhebt er sich hinter seinem Schreibtisch, streckt die Hand aus zum Abschied und wünscht noch eine schöne Zeit in Gaza.

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Quelle:
SZ vom 27.08.2013/fran
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