Rechtsextreme Gewalt:Die radikale Rechte gehört zu den Gewinnern der deutschen Einheit

Day Two After Halle Shootings

Eine Frau trauert vor dem Eingang zur Synagoge in Halle.

(Foto: Jens Schlueter/Getty Images)

Die Ausbreitung des Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern hat mehr mit der westdeutschen Geschichte zu tun, als der Westen wahrhaben will.

Gastbeitrag von Uffa Jensen

Nach dem Anschlag in Halle haben sich Fragen aufgedrängt: Wieso wurde der Rechtsterrorismus so lange ignoriert? Haben wir uns zu sehr auf den islamistischen Antisemitismus konzentriert und den der Rechtsradikalen vergessen? Wieso werden rechte Terroristen immer wieder als Einzeltäter verharmlost? Muss sich die AfD als geistige Brandstifterin bezeichnen lassen?

Der antijüdische Hass des Täters schockiert ebenso wie die Tatsache, dass er umstandslos nach anderen Opfern Ausschau hielt, als der Anschlag auf die Synagoge scheiterte. Auch die medientechnologische Seite des Terrors gerät in den Blick, wenn Täter per Livestream ein weltweites Publikum adressieren. Andere Themen kamen hingegen kaum zur Sprache, wie etwa die anhaltende Bedeutung faschistischer Männlichkeitsfantasien.

Aber es gilt noch einen anderen Aspekt zu beleuchten: Der Täter hatte sich nicht nur offenkundig den höchsten jüdischen Feiertag ausgesucht. 30 Jahre zuvor, am 9. Oktober 1989, fand die erste große Montagsdemonstration im knapp 50 Kilometer entfernten Leipzig statt. Es drängt sich die Frage auf, ob wir es bei antisemitischem Rechtsterrorismus mit einem Problem der Wiedervereinigung zu tun haben. Das Mantra lautet, dass Morde wie in Halle in eine lange ostdeutsche Traditionslinie eingeordnet werden müssen. Und es stimmt ja: Viele Gemeinden und Städte in den neuen Bundesländern haben seit Jahren größte Schwierigkeiten mit gewaltbereiten Rechtsextremisten. Während bis in den Sicherheitsapparat die Meinung vorherrscht, man werde zu Unrecht von den "Westmedien" stigmatisiert.

Es gehört zu diesem in ganz Deutschland beliebten Narrativ, den ostdeutschen Rechtsextremismus als Erbe der DDR hinzustellen. Richtig ist, dass der offizielle Antifaschismus der DDR der Neonazi- und Skinheadszene der Achtzigerjahre nichts entgegenzusetzen hatte. Die vereinigungsbedingten Umbrüche und die Orientierungsprobleme bereiteten dann gerade in ländlichen Regionen den Nährboden für die rechtsterroristische Welle der Neunzigerjahre, die von Ostdeutschland ausging, aber nicht darauf beschränkt blieb. Aus diesem Schoß erwuchs jener Attentäter, den in Halle nur eine Holztür von einem Massaker unvorstellbaren Ausmaßes abhielt.

Doch vieles an dieser Erzählung ist unvollständig, weil sie die Effekte der Wiedervereinigung ignoriert. Diese liegen auf personeller, struktureller sowie mentalitätsgeschichtlicher Ebene: Die Entwicklung des Rechtsextremismus nach 1989 lässt sich gerade nicht ohne den Westen verstehen. Auch dort war der Rechtsterrorismus bereits seit Jahrzehnten auf mörderische Weise virulent. Das westdeutsche Terrorjahr war keineswegs der Deutsche Herbst 1977 mit zehn Toten der RAF, sondern das Jahr 1980 mit 18 Toten, die vor allem von Mitgliedern der Wehrsportgruppe Hoffmann und der Roeder-Gruppe umgebracht wurden.

Die neue Rechte hat die Vereinigungsrhetorik seit Langem radikalisiert

Es geht nicht um Aufrechnung. Stattdessen ließe sich eine Geschichte der unterschiedlichen Wahrnehmungen durch die politische Elite und die Medien erzählen: Die RAF zielte auf Staatssekretäre und Arbeitgeberpräsidenten, die rechten Terroristen schon damals auf vietnamesische Asylbewerber, auf Juden oder auch auf Besucher des Oktoberfestes.

Die gewaltbereite Mobilisierung des rechtsextremen Milieus im Westen ließ sich nach 1989 in die neuen Bundesländer ausdehnen. Die erfahrenen westdeutschen Kader organisierten im Hintergrund die rechtsterroristische Gewaltexplosion der Neunzigerjahre. Das organisatorische Muster hält sich bis heute: Viele Führungspersonen in ostdeutschen AfD-Landesverbänden stammen aus dem Westen und bringen sehr oft rechtsextreme Erfahrungen mit. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Die radikale Rechte gehört zu den Vereinigungsgewinnern.

Auch mentalitätsgeschichtlich wirkt die Wiedervereinigung fort. Die Freude über die friedliche Revolution von 1989 wich schnell der Notwendigkeit, ein geeintes Deutschland aufzubauen. Der bis heute anhaltenden Selbsterforschung, ob beide Teile des Landes schon zueinander gefunden hätten, liegt eine nationalistische Schimäre zugrunde: eine echte innere Einheit, ohne Konflikte. Kann es da heute wirklich überraschen, dass rechte Kräfte diese Sinnsuche in ihre Homogenitätsformeln umgießen: "Wir sind das und vor allem ein Volk!"

Rechtsterrorismus will Homogenität gewaltsam herstellen

Juden dienten bei diesem so deutschen Verlangen nach innerer Reichsgründung seit dem 19. Jahrhundert als Gegenmodell. Für die radikalen Rechten verkörpern sie noch immer das antinationale, internationalistische und heimatlose Prinzip, gegen das sich eine gefestigte deutsche Identität behaupten muss. Genau darauf zielt Björn Höcke, wenn er jetzt von dem "völkerauflösenden und als pervers zu bezeichnenden Geist eines George Soros" (wie die "Rothschilds" inzwischen eine internationale Chiffre für Juden) schwafelt. Auch der Attentäter von Halle begründete seine Tat mit der Verschwörungstheorie vom "Großen Plan" und zielte zugleich auf die weiteren Feinde des rechten Homogenitätsdenkens ("Ausländer", Flüchtlinge, Feministinnen, Homosexuelle etc.)

Die neue Rechte und ihr parlamentarischer Arm, die AfD, haben die Vereinigungsrhetorik, die Rede von einem homogenen Ganzen, seit Langem radikalisiert, während die gesellschaftliche Mitte noch um ein plurales Narrativ für die deutsche Nation ringt. Der Rechtsterrorismus dreht die Schraube weiter: Homogenität soll gewaltsam hergestellt und jegliche Pluralität beseitigt werden.

Es geht nicht darum, die Wiedervereinigung zu verdammen, deren nationalstaatliche Logik durch die Vereinigung Europas konterkariert wurde. Es gilt zu bedenken, dass die radikale Rechte und der rechte Terror zu den Gewinnern der deutschen Einheit gehören. Sicherlich verdrehen sie deren Logik, wenn sie sie aufgreifen und in ihrem Sinne radikalisieren. Für die Demokraten kommt es daher darauf an, 30 Jahre nach dem glücklichen Fall der Mauer endlich ein plurales, inklusives und gewaltfreies Einheitsnarrativ herzustellen - und dann entschlossen zu verteidigen.

Uffa Jensen, 50, ist Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

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