Süddeutsche Zeitung

Jüdisches Leben in Deutschland:Nach Halle

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Vier Wochen sind seit dem Angriff auf die Synagoge vergangen - und in Deutschland ist kaum noch Beunruhigung zu spüren. Genau das ist beunruhigend

Kolumne von Norbert Frei

Stellt sich eigentlich noch jemand vor, in welchem Zustand diese Republik sich heute befände, hätte vor vier Wochen in Halle die Tür nicht gehalten, die einen zu allem entschlossenen Attentäter von den Betenden in der Synagoge trennte? Politik und Medien jedenfalls - und mit ihnen offenbar die meisten Deutschen - scheinen kaum mehr Diskussionsbedarf zu sehen. Das ist ein irritierender Befund angesichts einer Bluttat, die mehr hätte auslösen müssen als kurze Bestürzung und Fassungslosigkeit, auch mehr als ein paar spontane Zeichen der Empathie. Das ist zu wenig angesichts eines Mordplans, dem zwei Menschen zum Opfer gefallen sind und der ein Vielfaches an Menschenleben hätte fordern können. Das ist verstörend angesichts eines Verbrechens, das die Grundlagen unserer seit 70 Jahren gewachsenen Demokratie infrage stellt.

Tatsächlich hat die Tat mehr ausgelöst als Entsetzen und Erbitterung, nur leider kaum in der Mehrheitsgesellschaft. Der Minderheit selbst bleibt es überlassen, darüber nachzudenken, ob und wie es nun weitergehen soll mit dem jüdischen Leben in diesem Land. "Packen wir die Koffer?", hat der in München lehrende Historiker Michael Brenner, Sohn zweier Überlebender des Holocaust, drei Tage nach dem Anschlag in dieser Zeitung gefragt (SZ vom 12./13. Oktober). Die Diskussion seines Textes in unserem Jenaer Doktorandenseminar ließ niemanden unberührt: weil alle wussten, dass Brenners kurzer Durchgang durch die Geschichte des Antisemitismus in der Bundesrepublik nur die schlimmsten Anschläge und "Vorkommnisse" benennen konnte; weil allen noch viel mehr einfiel, was das Bild immer wieder eintrübte in all den Jahrzehnten, die seit John McCloys berühmter Mahnung vergangen sind.

"Einer der wirklichen Prüfsteine für den Fortschritt Deutschlands", so hatte der amerikanische Militärgouverneur 1949 festgestellt, werde sein, wie die jüdische Gemeinschaft "ein Teil des neuen Deutschlands wird und mit ihm verschmilzt". Was bleibt von diesem Ausdruck der Hoffnung, wenn Brenner nun sagt, es sei an der Zeit, die sprichwörtlichen, seit Langem ausgepackten Koffer wieder vom Dachboden zu holen, weil der Tag vielleicht nicht mehr weit sei, "an dem wir sie brauchen"?

Gewiss, es gibt auch andere Stimmen: zornige wie die von Richard C. Schneider, dem gebürtigen Münchner und langjährigen ARD-Korrespondenten in Tel Aviv, der in der Zeit von "lächerlichen Mahnwachen" sprach und erklärte, wegen des wachsenden Antisemitismus in Deutschland schon vor zwei Jahren nach Israel gezogen zu sein. Und es gibt Stimmen von brachialer Nüchternheit wie die von Natan Sznaider, der in der N euen Zür cher Zeitung konstatierte, die Juden übten im heutigen Deutschland, anders als in der Nachkriegszeit, keine "symbolische Funktion" mehr aus. Aber nicht allein deshalb sei die "Drohung, die Koffer wieder zu packen", gegenüber "wohl 80 Prozent der Menschen in Deutschland" unangebracht: Sie lasse, so der in Mannheim aufgewachsene Soziologe aus Tel Aviv, nur die "restlichen 20 Prozent triumphieren, die gerne ein einfaches und primitives Leben der Homogenität führen wollen".

Gegen rechts braucht es mehr als polizeiliche Aufrüstung. Es braucht politische Herzensbildung

Sznaiders Position ist die des Wissenschaftlers, der sich in Berlin und München genauso lehrend und forschend bewegt wie in den USA; es ist der inzwischen nicht selten abschätzig apostrophierte Blick der "Anywheres" auf die "Somewheres", der Kosmopoliten auf die Provinz. Wenn Sznaider den Juden in Deutschland nun empfiehlt, nicht "einer verlorenen Heimat nachzuweinen", sondern "Formen der Heimatlosigkeit als neue, sich öffnende chancenreiche Perspektive" zu begreifen, dann mag das manchen als ein bitterkluger Rat erscheinen. Für die besagten 80 (oder weniger?) Prozent der nichtjüdischen Mehrheit allerdings kann es nur heißen, endlich entschlossen für ihre jüdische Minderheit einzutreten: weil der Gedanke einfach unerträglich ist, dass sich Juden in Deutschland 81 Jahre nach der "Reichskristallnacht" nicht zu Hause fühlen können, dass sie erneut die Koffer packen.

Was daher nottut, ist mehr als polizeiliche Aufrüstung gegen rechts. Dass diese dringend geboten ist - im Netz wie auf der Straße -, scheinen die Innenbehörden von Bund und Ländern mittlerweile zu begreifen, und nach dem Abgang von Hans-Georg Maaßen gelingt das womöglich sogar dem Verfassungsschutz. Die Zeiten, in denen man dort notorisch nach links blickte und viel zu wenig nach rechts, müssen endgültig einer Vergangenheit angehören, die älter ist als die Bundesrepublik.

Aber es genügt nicht, mit den Mitteln des Strafrechts gegen antisemitische Äußerungen und Taten vorzugehen; es genügt nicht, Menschen unter Beobachtung halten zu wollen, die sich längst zu Judenfeindschaft, Hass und Gewalt bekennen. Wir müssen jene erreichen, die dabei sind, sich in Ressentiments einzurichten, die noch auf dem Weg sind in eine Welt der Vorurteile und Verschwörungstheorien.

Was es dazu braucht, wissen wir seit Langem - so lange schon, dass uns die einschlägigen Begriffe wie aus der Zeit gefallen erscheinen. Aber wir haben keine besseren: Aufklärung, Bildung, Erziehung.

Es ist deshalb auch kein Zufall, dass ein vor mehr als einem halben Jahrhundert gehaltener Vortrag von Theodor W. Adorno über "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" seit Monaten auf den Bestsellerlisten steht; es ist kein Zufall, dass nicht nur Historiker sich wieder für das "Gruppenexperiment" interessieren, mit dem das aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Frankfurter Institut für Sozialforschung dem Antisemitismus nach Hitler und der "autoritären Persönlichkeit" auf die Spur zu kommen suchte. Auch Adornos klassischer Aufsatz über "Erziehung nach Auschwitz" (1966) wird, erfreulicherweise, wieder viel gelesen: weil er lehrt, dass Demokratie und Toleranz, Menschenrechte und Minderheitenschutz keine aus sich selbst heraus auf Dauer gestellten Werte sind, sondern immer wieder neu vermittelt und (vor)gelebt werden müssen.

Politische Bildung ist gesellschaftliche Herzensbildung; sie ist, und auch darüber hat Adorno klarer als andere geschrieben und gesprochen, als Aufgabe so unabschließbar wie die kritische Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit.

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Quelle:
SZ vom 08.11.2019
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