Attentäter von Halle:Protokoll des Versagens

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Der Attentäter Stephan B. hatte am 30. Mai versucht, aus der Justizvollzugsanstalt Halle/Saale zu entkommen. Nun wurde er verlegt. (Foto: Hendrik Schmidt/dpa)

Der Fluchtversuch des Rechtsextremisten Stephan B. aus einem Gefängnis in Halle wurde durch eine ganze Serie von Pannen ermöglicht.

Von Ulrike Nimz, Leipzig

Es war nicht nur eine Panne, die den Fluchtversuch des rechtsextremen Attentäters Stephan B. im Gefängnis "Roter Ochse" in Halle ermöglichte. Es war offenbar eine ganze Pannenserie. Am Dienstag informierte Sachsen-Anhalts Justizministerin Anne-Marie Keding (CDU) über weitere Details des Vorfalls. Sie werfen kein gutes Licht auf das Personal und die Leitung der Justizvollzugsanstalt, aber auch die Ministerin selbst steht in der Kritik.

Keding zufolge habe die JVA eigenmächtig die Haftbedingungen von Stephan B. gelockert und dessen Fluchtversuch so erst ermöglicht. Das Justizministerium hatte zuvor eine Sicherheitsverfügung erlassen, der zufolge B. in einem kameraüberwachten Haftraum unterzubringen ist. Der Hofgang, die sogenannte Freistunde, darf nur allein, ohne weitere Gefangene absolviert werden. Bei Bewegungen innerhalb der Anstalt muss B. ständig von drei Bediensteten überwacht werden. "Hierzu ist auch zu keinem Zeitpunkt durch Erlass des Ministeriums eine Änderung erfolgt", sagte Keding.

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Vorige Woche war bekannt geworden, dass Stephan B. während seiner Freistunde unbeobachtet über einen 3,40 Meter hohen Zaun geklettert und in ein angrenzendes Gefängnisgebäude gelangt war. Er habe nach Ausgängen und Kanaldeckeln gesucht - und sich wenig später widerstandslos festnehmen lassen. Obwohl sich der Vorfall bereits am Pfingstsamstag ereignet hatte, war das Ministerium erst am Dienstag darauf in Kenntnis gesetzt worden.

B. habe sich bis zu seinem Ausbruchsversuch "unauffällig und angepasst" verhalten, sagt die Justizministerin

In Magdeburg schilderte die Ministerin den Ausbruchsversuch im Minutenprotokoll. Es ist auch ein Protokoll des Versagens. So sei B. im Zeitraum von 13.07 Uhr bis 13.10 Uhr von lediglich einem Bediensteten beaufsichtigt worden. Danach begab sich dieser Beamte in einen anderen Hof, um dort Gefangene während der Freistunde zu beaufsichtigen. Im Zeitraum zwischen 13.18 Uhr und circa 13.44 Uhr habe eine Bedienstete nur sporadisch nach dem Terrorverdächtigen geschaut, weil sie Häftlinge bei Malerarbeiten in einem Dienstzimmer beaufsichtigte. "Ebenfalls im klaren Widerspruch zur Erlasslage", so Keding.

Gegen 13.48 Uhr überwindet B. dann den Bereichszaun, indem er sich an einem angrenzenden Wandvorsprung abstützt. Der Zaun sei bereits zuvor von Gefangenen überwunden worden, allerdings lägen vergleichbare Vorfälle mehr als zehn Jahre zurück. Jenseits des Zaunes betritt Stephan B. ein leeres Transportgebäude, dessen Tür unverschlossen ist und versucht kurz darauf vergeblich, in ein Verwaltungsgebäude zu gelangen. Um 13.53 Uhr wird er von drei Bediensteten aufgegriffen. Dass Stephan B.s Fluchtversuch trotz zahlreicher Überwachungskameras minutenlang unbemerkt blieb, erklärt die Ministerin auch durch eine Störung der Zellenkommunikationsanlage im Hafthaus, um deren Beseitigung sich die Sicherheitszentrale zugleich kümmern musste.

Und warum vergingen Tage, bis das Geschehen öffentlich gemacht wurde? Der Fluchtversuch sei von den beteiligten Beamten nicht als "sonstiges Ereignis von schwerwiegender Bedeutung, das geeignet ist, in der Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen", eingeordnet worden, so Keding. Andernfalls hätte dies zwingend einen schriftlichen Bericht an das Justizministerium bis 7 Uhr des Folgetages nach sich gezogen.

Auch die Anstaltsleitung sei nach derzeitiger Erkenntnislage nicht unverzüglich, sondern erst mit Dienstbeginn am 2. Juni informiert worden. Diese habe dann das Ministerium in Kenntnis gesetzt. Man prüfe nun die Einleitung von Disziplinarverfahren, so Keding. Anhaltspunkte für ein planmäßiges Vorgehen gebe es jedoch nicht. Die zuständigen Beamten wurden inzwischen in einen anderen Trakt versetzt, Stephan B. in das Hochsicherheitsgefängnis nach Burg verlegt.

"Ich bedauere es zutiefst, dass es überhaupt zu diesem Fluchtversuch kam", so die Justizministerin. Dadurch seien erneut Angst und Schrecken unter den Hallensern und in der Jüdischen Gemeinde wach geworden. "Dafür möchte ich mich entschuldigen". B. habe sich bis zu seinem Ausbruchsversuch "unauffällig und angepasst" verhalten. Auch deshalb habe man beispielsweise im Verlauf der Haft auf die zunächst angeordnete Handfesselung verzichtet.

Die Bundesanwaltschaft wirft Stephan B. zweifachen Mord und 68-fachen Mordversuch "aus einer antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Gesinnung heraus" vor. Der Rechtsextremist hatte am 9. Oktober 2019 versucht, bewaffnet in die Synagoge in Halle einzudringen. Als ihm dies misslang, erschoss er eine Passantin sowie den Gast eines nahen Döner-Imbisses. Am 21. Juli soll der Prozess beginnen.

Die Landtagsfraktion der Linken in Sachsen-Anhalt forderte Justizministerin Keding am Dienstag zum sofortigen Rücktritt auf. Am Donnerstag will sich der Rechtsausschuss des Landtags in einer Sondersitzung mit dem Vorfall befassen.

© SZ vom 10.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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