Süddeutsche Zeitung

Halle nach dem Anschlag:Gefangen zwischen Alltag und Aufarbeitung

Im Oktober 2019 versuchte ein Terrorist, in die Synagoge einzudringen. Er tötete zwei Menschen. Nun steht er vor Gericht. Welche Folgen hatte die Tat für die Stadt? Manche befürchten: zu wenige.

Von Cornelius Pollmer, Halle (Saale)

Ein Einsatzwagen der Polizei steht am Freitag an der Synagoge in Halle. Er steht dort nicht, weil gerade etwas passiert wäre, er steht dort, weil am 9. Oktober 2019 etwas Furchtbares passierte und weil auch nur im Ansatz Vergleichbares nie wieder passieren soll. Zwei Menschen tötete der Rechtsextremist Stephan B. an diesem Tag und er hätte in der Synagoge an der Humboldtstraße wohl viele mehr getötet, wäre er nicht an deren Tür gescheitert. An diesem Dienstag beginnt der Prozess gegen B., es wird dann weiterhin ein Wagen der Polizei an der Synagoge stehen, rund um die Uhr. Doch gibt es sehr unterschiedlichen Ansichten, was dieser Wagen eigentlich ist. Eine Illustration von Stärke? Ein Symbol der Schwäche?

Bis vor kurzem konnte Benjamin Leins den Wagen aus seinem Fenster sehen. Mit einer Nachbarin hatte er nach dem Anschlag ein Banner an die Fassade seines Wohnhauses gehängt: "Humboldtstr. gegen Antisemitismus + Hass". Dann ging der Anwohner Leins vor die Tür und wurde nicht zufällig zum umsichtigen und differenzierenden Erklärer seiner Stadt vor unzähligen Kameras.

Leins, 33, ist inzwischen umgezogen, aber man kann ihn treffen im Garten des Schlesischen Konvikts, aus dem zunächst nur das leichte Klacken von Tischtennisbällen zur Straße hin weht. Wie hat die Stadtgesellschaft auf den Anschlag reagiert, was hat sich getan? Am Anfang, sagt Kirchenmusiker Leins, habe er sich in seiner Stadt umgesehen und gedacht: Mensch, hier stimmt doch was! In der Kirche und an der Synagoge habe er Menschen gesehen, die er dort zuvor nie gesehen hatte, viele aus der Stadt solidarisierten sich und feierten gemeinsam den Sabbat.

Erst flackerten Hunderte Lichter der Anteilnahme, dann kamen die Buden für den Weihnachtsmarkt

Was aber danach passierte, auch in seinem eigenen Leben, beschreibt Leins womöglich zwar zwangsläufig, jedoch in jedem Fall bedrückend. Der Wunsch nach Alltag wuchs bald wieder, der Anschlag von Hanau erleichterte es, Halle einzureihen in etwas Größeres, "als Teil eines gesamtdeutschen Phänomens". Leins vergleicht diese Entwicklung mit dem Klimawandel, eine für alle so große, aber eben auch abstrakte Aufgabe, die es möglich mache, Verantwortung abzugeben, zum Beispiel an den Rechtsstaat. Es habe ihn, sagt Leins, frustriert, dass viele Leute und zum Teil auch er selbst so zügig zu ihren jeweiligen Normalitäten zurückkehrten und "dass es wenig Bereitschaft gab, zu fragen, was dieses traurige Ereignis mit unserer Normalität zu tun hat." So war es in vielen Köpfen und so war es auch auf dem Markt von Halle: Erst flackerten Hunderte Lichter der Anteilnahme, aber irgendwann kamen die Transporter mit den Buden für den Weihnachtsmarkt.

Aus dem politischen Raum, so sieht das Henriette Quade von der Linkspartei, kann nicht viel anderes berichtet werden. Zwar kamen dort nicht die Weihnachtsmarktbuden, sondern immerhin ein Untersuchungsausschuss. Im Februar nahm dieser seine Arbeit auf und er bringt mitunter Interessantes hervor, das noch zu betrachten sein wird wie jüngst am Donnerstag bei der Befragung Frank Michlers, Einsatzleiter der Polizei am 9. Oktober 2019. Michler berichtete unter anderem von einem Schusswechsel zwischen B. und vier Polizisten, den diese nicht meldeten.

Was ist heute anders außer der Präsenz der Polizei? "Gar nichts", sagt die linke Abgeordnete

Davon abgesehen, sagt die Landtagsabgeordnete Quade, "wird der Untersuchungsausschuss nicht analysieren, was analysiert werden müsste". Das habe mit dessen begrenztem Untersuchungsauftrag zu tun und dies trage dazu bei, dass strukturelle Schwächen der Sicherheitsbehörden in Sachsen-Anhalt insbesondere im Umgang mit Rechtsextremismus bislang nicht angefasst würden. Diese Schwächen erlaubten es beteiligten Stellen, die Verantwortung hin und her zu schieben, sagt Quade. Auch von dem bevorstehenden Prozess dürfe man sich in dieser Hinsicht nicht zu viel erhoffen, weil B. juristisch betrachtet womöglich ein Einzeltäter sei und weil Antworten auf die Frage eher ausbleiben dürften, welche Rolle rassistische Diskurse und On- wie Offline-Netzwerke der extremen Rechten spielten.

Was also ist jetzt politisch anders als noch im Oktober? "Außer, dass Polizei vor der Synagoge steht? Gar nichts", sagt Quade. Die Baustellen seien schon seit Jahren bekannt, "ich habe immer wieder so viele Bekundungen gehört und die sind alle nicht falsch, aber sie führen nicht zu politischem Handeln und das ist das Problem".

Sebastian Striegel, Parlamentarischer Geschäftsführer der in Sachsen-Anhalt mit CDU und SPD regierenden Grünen, führt zwar zunächst einige Punkte an, die sich aus seiner Sicht durchaus getan haben seit dem Anschlag. Neben der Polizeipräsenz an der Synagoge sei dies die höhere Sichtbarkeit jüdischen Lebens wie auch die Stärkung des Antisemitismusbeauftragten des Landes. Aber Striegel sagt ebenso, dass auch politisch tatsächlich rasch Alltag eingekehrt und dass dies ein Problem sei: "Antisemitismus, aber auch Rassismus und Frauenfeindlichkeit werden weiterhin nicht als Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft problematisiert." Und auch die Landesregierung habe diese gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeiten "noch nicht als permanentes Problem erkannt".

Benjamin Leins vermutet, dass die Landespolitik auch deswegen nicht spür- und messbarer auf den Anschlag reagiert hat, weil Gefahren von rechts "weder dem Weltbild noch den Ängsten entsprechen, die man hier hat". So würde ein Rechtsterrorist in der Wahrnehmung nicht weniger schnell zu einem "rechten Spinner aus dem Hinterland, in dem ja auch die Leute sitzen, von denen man sich gerne wiederwählen lassen möchte". Leins sieht auch dies mit Sorge, aber er setzt, das soll nicht unerwähnt bleiben, durchaus auch Hoffnung in den Prozess gegen Stephan B. Wenn die Hallenser zumindest diesen intensiv begleiteten, dann könne es sein, dass das Verfahren für die Stadt in einem guten Sinne identitätsstiftend wirke.

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SZ vom 20.07.2020/jael
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