Anschlag auf Synagoge:Video wirft Fragen zum Polizei-Einsatz in Halle auf

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Die Synagoge von Halle: Sie stand zum Zeitpunkt der Tat an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, nicht unter Polizeischutz. (Foto: Soeren Stache/dpa)
  • Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR haben das Video einer Überwachungskamera beim Anschlag von Halle ausgewertet.
  • Es zeigt, wie teilnahmslos viele Menschen an der vom Attentäter niedergeschossenen Frau vorbeigingen.
  • Die Polizei schickte trotz zweier Notrufe, in denen von einem bewaffneten Mann die Rede war, zunächst nur einen Streifenwagen zum Tatort.

Von Florian Flade, Georg Mascolo und Ronen Steinke, Berlin

Ruhig ist es in der Humboldtstraße in der Innenstadt von Halle, ruhig, bevor der Terror beginnt. Es ist der 9. Oktober 2019, Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, eine Überwachungskamera filmt die Szenerie vor der Synagoge. Sie ist oben links neben der Eingangstür montiert, zur Kontrolle der Besucher. Aber ihr Objektiv erfasst auch den Gehweg und Teile der Straße.

Auf den Aufnahmen sieht man, wie um 12.01 Uhr ein dunkelgrauer Golf vor der Synagoge hält. Ein Mann in Kampfmontur steigt aus, er trägt einen Helm, Stiefel, eine Militärweste, er versucht, in das Gebäude einzudringen. Er tritt gegen die schwere Tür, zündet Sprengsätze und feuert mit einer selbstgebauten Schrotflinte. Die Tür hält. Eine Passantin allerdings, die zufällig vorbeikommt, schießt der Attentäter um 12.03 Uhr nieder, sie fällt vornüber und bleibt reglos liegen. Sie ist das erste Opfer von Halle.

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So viel war schon bekannt über das, was in Deutschland und weit darüber hinaus Entsetzen ausgelöst hat an diesem Tag. Der Täter hat auch selbst ein Video davon mit einer Helmkamera gedreht und es im Netz verbreitet. Nur sehr knapp sind 75 Jahre nach dem Holocaust Juden in Deutschland einem Massaker entgangen, das dem von Christchurch hätte ähneln können. Weit und breit war kein Wachposten der Polizei, der dies hätte verhindern können.

Der Briefträger auf der anderen Straßenseite verteilt ungerührt weiter seine Post

Kaum bekannt ist aber, wie es weiterging vor der Synagoge. Das Video der Überwachungskamera, das von Ermittlern des Bundeskriminalamtes gesichert wurde und das Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR jetzt auswerten konnten, zeigt die Tat erstmals nicht nur aus einem anderen Blickwinkel. Es zeigt auch, was danach geschah - nachdem der Täter bis 12.07 Uhr vor dem jüdischen Gotteshaus gewütet hat und dann in seinem Wagen davongefahren ist. Und es zeigt, was nicht geschah.

Bemerkenswert ist vor allem, wie ruhig, ja beinahe teilnahmslos viele Menschen an diesem Mittwochmittag auf das Geschehen reagierten; mitten in einer deutschen Großstadt liegt eine Person niedergeschossen auf dem Asphalt, aber Passanten gehen weiter. Und auch zur Reaktion der Polizei auf den Terroralarm an der Synagoge wirft dieses Video neue Fragen auf.

Nachdem der Täter davongerast ist, bleibt sein erstes Opfer, Jana L., allein zurück, um sie herum ist Blut. Auf der anderen Straßenseite verteilt ein Briefträger ungerührt weiter seine Post. Niemand scheint sich für die Frau zu interessieren, bis ein Mann mit Kapuzenpullover, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, anhält und zu ihr hingeht. Er kniet nieder, berührt sie. Mehrere andere Personen stehen herum. Dann geht er wieder auf Abstand. Es wird telefoniert. Erste Hilfe leistet niemand. Andere gehen vorbei.

Auch die Polizei leistet zunächst keine Erste Hilfe

Als die Polizei um 12.11 Uhr eintrifft, ist es zunächst nur ein einzelner Streifenwagen. Dieser Anblick wird auch ins Innere der Synagoge übertragen, wo gerade Panik herrscht und die Menschen das Geschehen auf einem kleinen Bildschirm verfolgen können: Aus dem Blickwinkel der Kamera sieht man lediglich eine Beamtin, die aus dem Fahrzeug steigt. Ruhig. Laut dem Innenministerium Sachsen-Anhalts war noch ein zweiter Beamter im Streifenwagen, ihn sieht man zunächst nicht. Die Beamtin geht einmal um die niedergeschossene Jana L. herum, aber auch sie leistet keine Erste Hilfe. Dann bleibt sie stehen.

Die Beamtin, so hat Innenminister Holger Stahlknecht am Tag nach dem Anschlag gesagt, habe die liegende Frau überprüft. "Der Tod der Person hat sich dann nach Überprüfung bestätigt." Auch in Ermittlerkreisen wird davon ausgegangen, sie sei bereits tot gewesen. Allerdings ist nirgends ein Notarzt zu sehen, der kompetent wäre zu beurteilen, ob ihr wirklich nicht mehr zu helfen war. Bis 12.22 Uhr jedenfalls trifft kein Notarzt ein; so lange dauert dieser Video-Ausschnitt. Wann genau erstmals ein Rettungswagen da ist, dazu konnte das Innenministerium auf Anfrage keine genauen Angaben machen.

Die Liste der Fragen ist lang

Auch um ihren eigenen Schutz bemüht sich die Beamtin erstaunlich wenig, sie hält keine Waffe in der Hand, sie trägt keine Schutzweste, keinen Helm. Sie scheint womöglich auf Anweisungen zu warten, minutenlang, gelegentlich ruft sie Passanten etwas zu. Laut dem Innenministerium befindet sich eigentlich in jedem Streifenwagen eine solche Schutzausrüstung, nach dem Anschlag auf das Olympia-Einkaufszentrum in München ist dies in Sachsen-Anhalt eingeführt worden. "Die eingesetzten Polizeikräfte legten die Schutzausrüstung gegen 12.19 Uhr an", heißt es auf Nachfrage. "Im Vordergrund stand das schnelle Erreichen des Tatorts."

Die Behörden und das Innenministerium haben viele Fragen zum Anschlag von Halle entweder gar nicht oder nicht ausreichend beantwortet. Ein Untersuchungsausschuss im Magdeburger Landtag tagt. Die Liste der Fragen ist lang: Warum war trotz des jüdischen Feiertages keine Polizei vor der Synagoge postiert, wie es an so vielen anderen Orten im Land seit Jahren selbstverständlich ist? Und vor allem, warum eigentlich versäumten es die Behörden in Sachsen-Anhalt ganze 13 Jahre lang, eine Vereinbarung mit den jüdischen Gemeinden zu treffen, um sogenannte bauliche Schutzmaßnahmen zu finanzieren?

Vom Wunder von Halle ist bis heute in Berlin die Rede, wenn es um den Anschlag geht - die stabile Eingangstür der Synagoge hat offenbar viel Schlimmeres verhindert. Aber inzwischen wird nicht mehr nur über das Wunder gesprochen, sondern auch über Fehler und Versagen.

"Der Anschlag hat mich fassungslos gemacht, und zornig", sagte etwa Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er wolle nach diesem Angriff nicht mehr länger darüber diskutieren müssen, ob es notwendig sei, jüdische Einrichtungen an hohen Feiertagen mit Polizei zu schützen. "Es ist notwendig. Das ist traurig genug. Der Staat aber hat dieser Notwendigkeit ohne Wenn und Aber entschlossen Rechnung zu tragen."

Ohne Wenn und Aber - das war am 9. Oktober 2019 in Halle ganz offensichtlich nicht der Fall. Schon um 12.03 Uhr rief der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Max Privorozki, den Notruf 112 der Stadt Halle an. Es war eine panische Situation in der Synagoge, so hat er sich später erinnert: "Ich schrie ins Telefon." Draußen schieße ein Mann mit einem Maschinengewehr, womöglich lägen schon Tote auf der Straße. Er habe versucht, den Beamten die Situation zu erklären. Die Reaktion am anderen Ende fand er irritierend. "Und dann fragen sie mich, wie ich heiße und wo die Synagoge ist."

Die Polizei schickte zunächst nur einen Streifenwagen

Am Ernst der Lage dürfte eigentlich niemand gezweifelt haben. Während dieses Notrufs aus der Synagoge, der bis 12.05.59 Uhr dauerte, habe man sogar Schüsse im Hintergrund gehört, so berichtete der Innenminister Stahlknecht, der zugleich CDU-Chef des Landes ist, am Tag nach dem Anschlag.

Ein zweiter Notruf geht dann schon um 12.04 Uhr direkt bei der Polizei unter 110 ein, so hat sein Ministerium offengelegt. Auch darin ist bereits die Rede von einem bewaffneten Mann, der Sprengsätze um sich werfe und vor der Synagoge auf eine Frau schieße. Dennoch schickte die Polizei zunächst nur einen Streifenwagen. Eben den, der um 12.11 Uhr eintraf. Ein zweiter kam um 12.14 Uhr.

Warum wurden nicht gleich mehr Kräfte geschickt, obwohl in Halle und Umgebung an diesem Tag ganze 26 Streifenwagen unterwegs waren und allein im Innenstadtgebiet fünf? Stahlknechts Referatsleiterin für Polizeiangelegenheiten hat dazu am 14. Oktober im Landtag erläutert: "Drei Funkstreifenwagen befanden sich um 12.04 Uhr auf der Anfahrt zu einem besonders schweren Diebstahl aus einem Keller mit mehreren Tätern, bei denen die Möglichkeit bestand, diese zu stellen."

Erst um 12.10 Uhr habe es die Entscheidung gegeben, auch diese drei Wagen zur Synagoge zu schicken. Zu einer Zeit also, als der Attentäter längst wieder den Tatort verlassen hatte. Erst "um 12.15 Uhr erfolgte die Anforderung verfügbarer Spezialeinheiten und Spezialkräfte der Länder und des Bundes sowie der Landesbereitschaftspolizei", sagte ein Sprecher Stahlknechts.

Der Täter kam noch einmal zurück - und wurde nicht gestoppt

Was dies bedeutet hat, sieht man an einer besonders bemerkenswerten Stelle des Videos. Der Täter ist mit seinem Wagen sogar noch einmal zur Synagoge zurückgekommen um 12.17 Uhr. Zehn Minuten nachdem er davongefahren ist, kam er in entgegengesetzter Richtung noch einmal zurück durch dieselbe Straße vor der Synagoge gefahren. Dort gab es noch kein großes Polizeiaufgebot. Sondern nur zwei Streifenwagen.

Niemand hat ihn gestoppt oder es auch nur versucht, niemand hat die Verfolgung aufgenommen, obwohl die Polizei bereits wusste, welches Kennzeichen das gesuchte Fahrzeug des Täters hatte. Um 12.13 Uhr war sein Wagen über den Polizeifunk zur Fahndung durchgegeben worden. Der Täter musste lediglich einem auf der Straße geparkten Polizeiwagen ausweichen in diesem Moment. Er fuhr ein Stück über den Gehweg und entkam so erneut.

Seit dem Anschlag ist vieles verbessert worden, unter anderem der Schutz für Synagogen und auch Moscheen ist hochgefahren worden im Land; über die Vergangenheit spricht man nur noch ungern. Mögliche Versäumnisse der Behörden im Vorhinein - und Verfehlungen am Tattag selbst werden wohl in den kommenden Monaten in einem Untersuchungsausschuss diskutiert werden. Gefordert hatte den Ausschuss die AfD-Fraktion, sie vermutet erhebliche Missstände bei den Sicherheitsbehörden. Die anderen Parteien im Landtag hingegen bezweifeln, dass sie wirklich an Aufklärung interessiert ist.

Und tatsächlich wird sich der Ausschuss gar nicht zuerst mit dem Anschlag des Rechtsterroristen in Halle befassen, sondern mit einem ganz anderen Fall. Vor zwei Jahren ist in derselben Stadt ein Polizeischüler aus dem obersten Stockwerk eines Hauses in den Tod gestürzt. Die Eltern vermuten, ihr Sohn sei in einem bekannten Treffpunkt der linken Szene als Polizeianwärter erkannt und dann angegriffen worden. Die AfD will dies klären, vorrangig. Sie vermutet Vertuschung.

© SZ vom 08.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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