Anschlag auf Synagoge:Die Reaktion der Polizei auf den Notruf aus der Synagoge wirft Fragen auf

Vom Wunder von Halle ist bis heute in Berlin die Rede, wenn es um den Anschlag geht - die stabile Eingangstür der Synagoge hat offenbar viel Schlimmeres verhindert. Aber inzwischen wird nicht mehr nur über das Wunder gesprochen, sondern auch über Fehler und Versagen.

"Der Anschlag hat mich fassungslos gemacht, und zornig", sagte etwa Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er wolle nach diesem Angriff nicht mehr länger darüber diskutieren müssen, ob es notwendig sei, jüdische Einrichtungen an hohen Feiertagen mit Polizei zu schützen. "Es ist notwendig. Das ist traurig genug. Der Staat aber hat dieser Notwendigkeit ohne Wenn und Aber entschlossen Rechnung zu tragen."

Ohne Wenn und Aber - das war am 9. Oktober 2019 in Halle ganz offensichtlich nicht der Fall. Schon um 12.03 Uhr rief der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Max Privorozki, den Notruf 112 der Stadt Halle an. Es war eine panische Situation in der Synagoge, so hat er sich später erinnert: "Ich schrie ins Telefon." Draußen schieße ein Mann mit einem Maschinengewehr, womöglich lägen schon Tote auf der Straße. Er habe versucht, den Beamten die Situation zu erklären. Die Reaktion am anderen Ende fand er irritierend. "Und dann fragen sie mich, wie ich heiße und wo die Synagoge ist."

Die Polizei schickte zunächst nur einen Streifenwagen

Am Ernst der Lage dürfte eigentlich niemand gezweifelt haben. Während dieses Notrufs aus der Synagoge, der bis 12.05.59 Uhr dauerte, habe man sogar Schüsse im Hintergrund gehört, so berichtete der Innenminister Stahlknecht, der zugleich CDU-Chef des Landes ist, am Tag nach dem Anschlag.

Ein zweiter Notruf geht dann schon um 12.04 Uhr direkt bei der Polizei unter 110 ein, so hat sein Ministerium offengelegt. Auch darin ist bereits die Rede von einem bewaffneten Mann, der Sprengsätze um sich werfe und vor der Synagoge auf eine Frau schieße. Dennoch schickte die Polizei zunächst nur einen Streifenwagen. Eben den, der um 12.11 Uhr eintraf. Ein zweiter kam um 12.14 Uhr.

Warum wurden nicht gleich mehr Kräfte geschickt, obwohl in Halle und Umgebung an diesem Tag ganze 26 Streifenwagen unterwegs waren und allein im Innenstadtgebiet fünf? Stahlknechts Referatsleiterin für Polizeiangelegenheiten hat dazu am 14. Oktober im Landtag erläutert: "Drei Funkstreifenwagen befanden sich um 12.04 Uhr auf der Anfahrt zu einem besonders schweren Diebstahl aus einem Keller mit mehreren Tätern, bei denen die Möglichkeit bestand, diese zu stellen."

Erst um 12.10 Uhr habe es die Entscheidung gegeben, auch diese drei Wagen zur Synagoge zu schicken. Zu einer Zeit also, als der Attentäter längst wieder den Tatort verlassen hatte. Erst "um 12.15 Uhr erfolgte die Anforderung verfügbarer Spezialeinheiten und Spezialkräfte der Länder und des Bundes sowie der Landesbereitschaftspolizei", sagte ein Sprecher Stahlknechts.

Der Täter kam noch einmal zurück - und wurde nicht gestoppt

Was dies bedeutet hat, sieht man an einer besonders bemerkenswerten Stelle des Videos. Der Täter ist mit seinem Wagen sogar noch einmal zur Synagoge zurückgekommen um 12.17 Uhr. Zehn Minuten nachdem er davongefahren ist, kam er in entgegengesetzter Richtung noch einmal zurück durch dieselbe Straße vor der Synagoge gefahren. Dort gab es noch kein großes Polizeiaufgebot. Sondern nur zwei Streifenwagen.

Niemand hat ihn gestoppt oder es auch nur versucht, niemand hat die Verfolgung aufgenommen, obwohl die Polizei bereits wusste, welches Kennzeichen das gesuchte Fahrzeug des Täters hatte. Um 12.13 Uhr war sein Wagen über den Polizeifunk zur Fahndung durchgegeben worden. Der Täter musste lediglich einem auf der Straße geparkten Polizeiwagen ausweichen in diesem Moment. Er fuhr ein Stück über den Gehweg und entkam so erneut.

Seit dem Anschlag ist vieles verbessert worden, unter anderem der Schutz für Synagogen und auch Moscheen ist hochgefahren worden im Land; über die Vergangenheit spricht man nur noch ungern. Mögliche Versäumnisse der Behörden im Vorhinein - und Verfehlungen am Tattag selbst werden wohl in den kommenden Monaten in einem Untersuchungsausschuss diskutiert werden. Gefordert hatte den Ausschuss die AfD-Fraktion, sie vermutet erhebliche Missstände bei den Sicherheitsbehörden. Die anderen Parteien im Landtag hingegen bezweifeln, dass sie wirklich an Aufklärung interessiert ist.

Und tatsächlich wird sich der Ausschuss gar nicht zuerst mit dem Anschlag des Rechtsterroristen in Halle befassen, sondern mit einem ganz anderen Fall. Vor zwei Jahren ist in derselben Stadt ein Polizeischüler aus dem obersten Stockwerk eines Hauses in den Tod gestürzt. Die Eltern vermuten, ihr Sohn sei in einem bekannten Treffpunkt der linken Szene als Polizeianwärter erkannt und dann angegriffen worden. Die AfD will dies klären, vorrangig. Sie vermutet Vertuschung.

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