Gedenken an Anschlag in Halle:"Wir alle müssen Haltung zeigen"

Halle Anschlag Steinmeier Gedenken

Bundespräsident Steinmeier beim Gedenken vor dem Kiez-Döner in Halle.

(Foto: dpa)

Drei Minuten lang steht Halle im Gedenken an den antisemitischen Anschlag vor einem Jahr still. Über eine Stadt, die alles richtig machen will und wo so viel falsch lief.

Von Julia Bergmann, Halle

Plötzlich steht die Stadt still. Ein paar hundert Menschen haben sich um 12.01 Uhr vor der Marktkirche in Halle versammelt. Dann dröhnen die Glocken los. Drei Minuten dauert ihr Geläut. Drei Minuten Gedenken. Drei Minuten, in denen alles wieder präsent ist. Auf dem Marktplatz halten sich viele an den Händen, einige haben Tränen in den Augen. Da ist sie wieder, die Erinnerung an den schwerbewaffneten Mann, der versuchte, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, in die Synagoge im Paulusviertel einzudringen. Der verblendet von Hass die 52 Menschen darin töten wollte. Und der, als es ihm nicht gelang, die verschlossene Tür zu öffnen, eine Passantin und später den Gast eines Döner-Imbisses erschoss. Jana Lange und Kevin Schwarze. Die Erinnerung an den Moment, als die Zeit in Halle am 9. Oktober 2019 schon einmal stillzustehen schien. Um kurz nach 12 Uhr spielen die Glocken des Roten Turms das jüdische Volkslied Hevenu shalom alechem, "Wir wollen Frieden für alle".

"Ein Jahr ist vergangen, aber der Schmerz, das Entsetzen, sie sind nicht gewichen"

Ein Jahr nach dem Anschlag ist Halle eine Stadt voller Erinnerungen, voller Schmerz. Die zentrale Gedenkveranstaltung wurde am Abend in der Ulrichskirche begangen. "Ein Jahr ist vergangen, aber der Schmerz, das Entsetzen, sie sind nicht gewichen", sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er erinnerte an die beiden Menschen, die sterben mussten, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Für die Hinterbliebenen gebe es keinen Trost für diesen Verlust. "Als Bundespräsident möchte ich Ihnen, den Angehörigen, heute sagen: Wir stehen an Ihrer Seite. Wir alle. Die Menschen in unserem Land trauern mit Ihnen, und wir vergessen nicht." Man spürt das mittags auf dem Marktplatz, wo Taschentücher gezückt werden, wo ein junger Mann inmitten der Menge still für sich betet, vor und zurück wippt. Es sieht aus, als würde er flehen. Weiter hinten singt ein Mann auf Hebräisch zum Glockengeläut: "Wir wollen Frieden für alle, Frieden für die ganze Welt."

In Halle wird auf vielfältige Weise der Opfer gedacht. Überall in der Stadt gibt es Gedenkveranstaltungen, Podiumsdiskussionen, Pressekonferenzen. An den Anschlagsorten werden Kränze niedergelegt, Gedenktafeln und ein Mahnmal an der Synagoge enthüllt.

Halle ist an diesem Tag eine Stadt, die alles richtig machen will. Wo doch so manches im zurückliegenden Jahr so falsch lief. Da war der Fluchtversuch des Täters Stephan B. im Mai, nach dem es hieß, dass die Haftanstalt ihn selbst zu verschulden hatte. Der Fluchtversuch misslang, wurde aber von der Gefängnisleitung zunächst verschwiegen. Bis ein paar Tage später doch noch alles heraus kam. Und dann Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU), der erst vor wenigen Tagen beklagt hatte, dass die Polizeibeamten zur Bewachung jüdischer Einrichtungen 1500 Arbeitsstunden zusätzlich leisten müssten - und "diese 1500 Stunden fehlen woanders". Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, warf Stahlknecht daraufhin vor, Juden gegen andere Bevölkerungsgruppen auszuspielen. Er stellte dessen Eignung für das Amt in Frage.

Umso eindrücklicher wird an diesem 9. Oktober in Halle klar, dass es diesen Gedenktag zwar braucht, dass das Erinnern allein aber nicht die Probleme löst, die Deutschland 2020 mit Rassismus und Antisemitismus hat. Erst am Freitag hatte Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, vor einem "steil ansteigenden Antisemitismus" in Deutschland gewarnt. "Gerade in den vergangenen zwei Jahren haben Straftaten, auch Gewalttaten, gegen Juden und jüdische Einrichtungen in Deutschland erheblich zugenommen", sagte er dem Tagesspiegel.

Auch Steinmeier sagte während seiner Rede in der Ulrichskirche am Freitagabend: "Die Liste der antisemitischen Übergriffe seit 1945 ist lang. Es ist eine Liste der Schande. Sie muss jeden Demokraten umtreiben." Dass antisemitische Hetze und Hass wieder anschwellen, erfülle ihn mit Scham und Zorn. Es reiche nicht, einen Anschlag wie den in Halle zu verurteilen - und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen. "Wir alle müssen Haltung zeigen." Man wisse im Fall des Anschlags von Halle zwar, ebenso wie in Hanau, wer die Täter seien. Das allein sei aber nicht genug. Man müsse deren Motive ergründen, die Hintergründe aufklären, Netzwerke aufspüren, um Gefahren zu erkennen und solche Taten zu verhindern. "Zuallererst ist das die Aufgabe des Staates und seiner Sicherheitsorgane.

Aber es geht uns alle an." So sieht es auch Ísmet Tekin, der Besitzer des Kiez-Döner, vor dem Kevin Schwarze vor einem Jahr ermordet wurde. Er sagt: "Vor dem Anschlag war Deutschland für mich das demokratischste Land der Welt. Nach dem Anschlag gibt es Fragen." Die seien zu klären. Das Gedenken sei ein Anfang. "Was danach kommt? Wir werden sehen", sagt Tekin. Es klingt nicht, als würde er nur abwarten und beobachten wollen. Es klingt wie eine Forderung.

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