Haiti:Lynchmord am helllichten Tag

Haiti: Menschen in Port-au-Prince betrachten die Leichen mutmaßlicher Bandenmitglieder, die angeblich von einem Mob in Brand gesteckt wurden.

Menschen in Port-au-Prince betrachten die Leichen mutmaßlicher Bandenmitglieder, die angeblich von einem Mob in Brand gesteckt wurden.

(Foto: Odelyn Joseph/dpa)

Armut, Kriminalität, Gewalt: Die Vereinten Nationen vergleichen die Lage in Haiti mit der in einem Kriegsland und fordern internationales Eingreifen.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Es ist ein kurzes Schlaglicht auf eine nahezu allumfassende Krise: Anfang dieser Woche begannen Videos im Internet zu zirkulieren, die einen Lynchmord in Haiti zeigen sollen. Am helllichten Tag sollen in Port-au-Prince, der Hauptstadt des Landes, Passanten einen Bus entdeckt haben, in dem zuvor verhaftete mutmaßliche Bandenmitglieder saßen. Die Insassen wurden zum Aussteigen gezwungen, die Männer mussten sich auf den Boden legen, der Mob bewarf sie mit Steinen, wuchtete Reifen auf sie, übergoss sie mit Benzin - und verbrannte sie dann bei lebendigem Leib. Ein Dutzend Menschen sollen bei dem Lynchmord getötet worden sein.

Die grausamen Bilder kommen zu einem Zeitpunkt, an dem das Schicksal des bitterarmen Karibikstaates wieder einmal auf der internationalen Tagesordnung aufflackert: In einem neu erschienenen UN-Bericht heißt es, die Situation in Teilen des Landes habe ein Niveau erreicht, "das mit Ländern in bewaffneten Konflikten vergleichbar ist". Die Bevölkerung lebe in Teilen des Landes wie in einem Belagerungszustand, sagt dazu die Koordinatorin für humanitäre Hilfe in Haiti, Ulrika Richardson: "Aus Angst vor Waffengewalt und Bandenterror können sie ihre Häuser nicht mehr verlassen."

Der Präsident ermordet, die Regierung demokratisch nicht legitimiert

Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Zusammen mit der Dominikanischen Republik teilt es sich die Karibikinsel Hispaniola, doch während das Nachbarland ein boomendes Urlaubsparadies ist, versinkt Haiti im Chaos. Immer wieder gibt es Naturkatastrophen, Wirbelstürme verwüsten Felder und Dörfer, 2010 legte ein Erdbeben große Teile der Hauptstadt in Schutt und Asche. Dazu kommen schwerste politische Probleme: 2021 wurde der damalige Präsident, Jovenel Moïse, in seiner Privatvilla ermordet. Die Hintergründe sind bis heute nicht geklärt, eine Übergangsregierung hat seitdem die Macht übernommen. Diese allerdings hat kaum Rückhalt in der Bevölkerung, immer wieder gibt es Proteste, und seit Januar hat Haiti keinen einzigen demokratisch gewählten Regierungsvertreter mehr.

Dieses Machtvakuum füllen zunehmend kriminelle Gangs. Sie haben heute weite Teile der Hauptstadt fest in ihrer Hand, erpressen Schutzgeld, es gibt Entführungen, und Frauen und Mädchen werden systematisch vergewaltigt. Gleichzeitig liefern sich die Gangs erbitterte Revierkämpfe, bei denen immer wieder auch Unbeteiligte sterben. Allein in den ersten drei Monate dieses Jahres wurden 815 Menschen ermordet, so der UN-Bericht. Und die Gewalt eskaliert zunehmend: Wegen anhaltenden Schießereien müssen Hilfsorganisation immer wieder ihre Arbeit einstellen, Schulen und selbst Krankenhäuser werden geschlossen.

Zwar wurden in der Vergangenheit schon Sanktionen verhängt gegen Bandenbosse in Haiti, und die lokalen Behörde haben Ausrüstung erhalten, darunter gepanzerte Fahrzeuge. Uno-Generalsekretär António Guterres hat nun aber erneut ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft gefordert: Es gebe die "dringende Notwendigkeit der Entsendung einer internationalen Spezialeinheit", so Guterres.

Bandenterror und fliehende Polizisten

Diese Forderung ist nicht neu: Schon vor rund einem halben Jahr rief Haitis Übergangsregierung die internationale Gemeinschaft auf, dem Land zu helfen. Allein: Die Reaktionen waren bisher eher verhalten. Haiti hat eine lange und leidvolle Geschichte internationaler Einsätze: Blauhelmsoldaten schleppten nach dem verheerenden Erdbeben 2010 die Cholera ein, Tausende Menschen starben. Immer wieder begingen Angehörige von Hilfstruppen auch sexuellen Missbrauch an Frauen und sogar minderjährigen Mädchen. Kaum ein Land der Welt, so scheint es, ist heute noch bereit, sich in Haiti zu engagieren.

Doch ohne internationale Hilfe, so der UN-Bericht, seien die Behörden in Haiti nicht in der Lage, die Gewalt einzudämmen und die Situation im Land wieder unter Kontrolle zu bringen. Immer wieder gebe es Angriffe auf Sicherheitskräfte, Polizisten würden von Gangs ermordet oder sähen sich gezwungen, aus dem Land zu fliehen.

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