Haftbedingungen in Deutschland:Haft ist nicht gleich Haft

Haftbedingungen in Deutschland: Gefängnistür in der JVA Plötzensee. In Berlin gilt bis zum 1. September noch das alte, liberalere Strafvollzugsgesetz des Bundes von 1976/77.

Gefängnistür in der JVA Plötzensee. In Berlin gilt bis zum 1. September noch das alte, liberalere Strafvollzugsgesetz des Bundes von 1976/77.

(Foto: Regina Schmeken)

Wie mit Häftlingen umgegangen wird, hängt von deren Wohnort ab, denn die Verantwortung für den Strafvollzug liegt bei den Ländern.

Von Heribert Prantl

Dienst ist Dienst, Schnaps ist Schnaps, Haft ist Haft. Das erste stimmt nicht, das zweite stimmt nicht und das dritte stimmt überhaupt nicht. Haft ist nicht gleich Haft in Deutschland. Die Haftbedingungen sind je nach Bundesland sehr verschieden. Das war nicht immer so krass wie heute, es ist so krass geworden in den vergangenen zehn Jahren - weil in dieser Zeit jedes Bundesland sein ganz eigenes Strafvollzugsgesetz geschrieben hat.

Wie unterschiedlich die Gesetze sind, kann man am kleinen Beispiel der Besuchszeiten gut zeigen: In dem einem Land (in Bayern und Baden-Württemberg zum Beispiel) hat der Gefangene nur Anspruch auf eine Stunde Besuch im Monat, in dem anderen (in Brandenburg) auf vier Stunden. In dem einen Land werden die Besuche der Kinder des Gefangenen auf diese Regelbesuchszeit angerechnet, in dem anderen bis zu zwei Stunden nicht.

In dem einen Bundesland wird der offene Vollzug - also derjenige, bei dem die Gefangenen tagsüber zum Arbeiten nach draußen dürfen - gefördert, in dem anderen ist er verpönt. In dem einen Bundesland gibt es viel Hafturlaub; im anderen sehr wenig. Ein Strafverteidiger, der seine Mandanten in der ganzen Bundesrepublik einsitzen hat, braucht heute einen ganzen Schrank voll von Gesetzbüchern und den einschlägigen Kommentaren dazu, um seine Gefangenen ordentlich zu beraten und zu betreuen.

Die Gerechtigkeit ist eine Frage der Geografie geworden. Der Wohnsitz eines Verurteilten entscheidet darüber, in welchem Bundesland er einsitzen muss. Straftäter sollten also ihren Wohnsitz sorgfältig wählen: Das ist ausschlaggebend dafür, wie in der Haft mit ihnen umgegangen wird - ob die Resozialisierung oberstes Vollzugsziel ist oder die Sicherheit der Allgemeinheit.

Bis 2006 gab es ein einheitliches Haftgesetz für ganz Deutschland

Wie kam es zu dieser "neuen Unübersichtlichkeit", die nach Meinung von Johannes Feest, emeritierter Strafrechtsprofessor in Bremen, eine "Landplage" ist? Das kam so: Als vor zehn Jahren in Deutschland der Föderalismus reformiert wurde und die Kompetenzen von Bund und Ländern im Grundgesetz neu hin- und hergeschoben wurden, passierte etwas, was einem bis heute niemand erklären kann: Die Zuständigkeit für den Strafvollzug wurde mit Wirkung vom 1. September 2006 dem Bund weggenommen und den Ländern übertragen. Eine offizielle Begründung dafür gab es nie. Inoffiziell hörte man: Da können die Parteien ihre sicherheitspolitischen Vorstellungen besser durchsetzen; und besser sparen können sie auch.

Das erste haben sie getan, das zweite nicht ganz so heftig, wie vor zehn Jahren befürchtet. Der damals von den Kriminologen und Strafrechtlern vorhergesagte "Wettlauf der Schäbigkeit" ist nicht eingetreten. Aber die Tendenzen, die es bei der Auslegung des alten Bundesrechts gab, haben sich nun, mit der Geltung von Landesgesetzen, verschärft.

Schon vor der Föderalismusreform beobachteten Kriminologen, Psychologen und Gefängnisseelsorger eine eigenartige akustische Erscheinung in den deutschen Strafanstalten. Wenn sie "Resozialisierung" riefen, dann schallte es ganz anders wieder: "Schuld und Sühne" tönte das Echo - also Wörter, die im Strafvollzugsgesetz des Bundes gar nicht vorkamen.

Dort war das Hauptziel des Strafvollzugs klar beschrieben: Der Gefangene soll fähig werden, "künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen". Der Vollzug, so lautete die gesetzliche Forderung in ganz Deutschland bis 2006, ist vor allem "danach auszurichten, dass er den Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern".

Sicherheit und Abschreckung im Süden

Auffallend war aber schon vor der Föderalismusreform, dass das Echo auf diese Sätze im Süden ganz anders war als im Norden; der Strafvollzug im Süden war weniger resozialisierungsbetont, sondern stärker an Sicherheit und Abschreckung orientiert; diese alte Tendenz wurde nun in den neuen Landesgesetzen Gesetz; vielfach wurde zum Beispiel das Recht des Gefangenen auf Einzelunterbringung entwertet.

Kriminologen sprechen von einem restaurativen Gesamttrend, der stärker auf Sicherung ausgelegt sei als bisher. Noch ein Beispiel: Alle neuen Gesetze haben den Empfang von Paketen stark eingeschränkt, Lebensmittel dürfen gar nicht mehr ins Gefängnis geschickt werden; die Kontrolle sei zu aufwendig. Der Kriminologe Christoph Thiele in Greifswald kritisiert das: So ein selbstgepacktes Paket eines Familienangehörigen habe emotionalen Wert "als Zeichen der Verbundenheit"; es lasse sich also nicht einfach durch einen Einkauf beim Anstaltskaufmann ersetzen.

Von den 16 deutschen Bundesländern haben bisher 14 ein eigenes Landesstrafvollzugsgesetz in Kraft gesetzt - als bisher letzte Länder Sachsen-Anhalt (Anfang 2016) und Nordrhein-Westfalen (Anfang 2015). In Berlin und Schleswig-Holstein treten die neuen Strafvollzugsgesetze demnächst, am 1. September, in Kraft. Bayern, Hamburg, Niedersachsen (2007), Baden-Württemberg (2009) und Hessen (2010) waren mit ihren eigenen Gesetzen sehr schnell.

Die anderen Länder (mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen, das einen eigenen Weg ging) haben sich erst einmal zusammengesetzt und einen gemeinsamen Musterentwurf geschrieben, den sie dann mit Variationen umgesetzt haben: Brandenburg, das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz 2013, Thüringen und Bremen 2014. Solange die Länder von ihrer eigenen Gesetzesbefugnis keinen Gebrauch machen, findet das Strafvollzugsgesetz des Bundes von 1976 weiter Anwendung.

Der Geist der 68er rüttelte an den Gittern

Es gilt also zwei Wochen lang noch in Berlin und Schleswig-Holstein. Das alte Bundesgesetz aus dem Jahr 1976 ist, wie gesagt, in seinen grundsätzlichen Festlegungen liberaler als die meisten heutigen Landesgesetze. Der Bundesjustizminister war damals Hans-Jochen Vogel (SPD). Sein Gesetz stammt aus einer Zeit, in der der Strafvollzug ein großes gesellschaftliches Thema war. Der Geist der 68er rüttelte an den Gittern, oft wurde von den "Unterprivilegierten" gesprochen und über die fehlende Kommunikation "von draußen nach drinnen".

Bundespräsident Gustav Heinemann sprach vom "Staatsbürger hinter Gittern". Ein neues Bild vom Gefangenen entstand: Künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen, so dachten die Reformer vor vierzig Jahren, das lernt einer nicht als entmündigter Häftling - sondern durch Ausbildung, Umschulung, Therapie; Ausgang und Urlaub könnten helfen. Über die Reform legte sich bald die Bekämpfung des RAF-Terrorismus: seit Ende der Siebziger wurden Geld und politische Ideen primär für mehr Sicherheit ausgegeben. Reform, das hieß jetzt Verschärfung: Verschärfung des Strafrechts, Verschärfung des Strafprozessrechts, Verschärfung der Haftbedingungen.

Viele neue Landesgesetze folgen nun auch explizit einem konservativen Trend und gewichten die Vollzugsziele neu: Der Schutz der Allgemeinheit wird stärker in den Vordergrund gerückt als bisher. Am deutlichsten ist das in Bayern: Die Resozialisierung wird dem Schutz der Allgemeinheit nachgeordnet.

Noch Zellen frei

Die Zahl der Strafgefangenen sinkt. 2007 saßen in Deutschland noch 64 273 Menschen in Strafhaft oder Verwahrung, 2013 waren es nur noch 50 374. Auch wenn man die U-Haft mit einbezieht, ist der Rückgang markant: 2010 saßen noch fast 69 400 Menschen hinter Gittern, zuletzt waren es nur gut 61 700. (Stichtag 30. November 2015). Weniger als sechs Prozent sind Frauen. Grund für den Rückgang: die Demografie. "Die Vergreisung der Republik fördert die innere Sicherheit enorm", sagt Kriminologe Christian Pfeiffer.

Heribert Prantl

Nordrhein-Westfalen - das neue Strafvollzugsgesetz dort wurde im Januar 2015 erlassen - hat sich dagegen, dem Bundesverfassungsgericht folgend, für einen Resozialisierungsvollzug entschieden. Die höchsten Richter in Karlsruhe hatten im Jahr 2006 festgestellt, dass Resozialisierung den besten Schutz vor neuen Straftaten biete. Der Sicherheit der Allgemeinheit ist also am besten gedient, wenn die Resozialisierung funktioniert.

Weniger als ein Prozent der Inhaftierten missbraucht die Lockerungen

Die gesetzgeberische Grundentscheidung für Resozialisierung oder nicht hat sehr konkrete Auswirkungen, wenn es um Vollzugslockerungen geht, um die Möglichkeit des offenen Vollzugs oder um Entlassungsvorbereitung. In Bayern, dem Land also, wo die Sicherheit besonders groß geschrieben wird, liegt der Anteil der Gefangen, die unter Tags außerhalb der Haftanstalt arbeiten dürfen, bei nur sieben Prozent, im Bundesdurchschnitt liegt er derzeit bei 15 Prozent, in einigen Bundesländern bei gut zwanzig.

Dieser offene Vollzug gilt als sehr resozialisierungsfreundlich, weil er den Gefangenen die Nähe zum Leben in Freiheit ermöglicht; die Rückfallquote von entlassenen Gefangenen, die im offenen Vollzug waren, ist deutlich geringer als die derjenigen im geschlossenen Vollzug. Weniger als ein Prozent der Inhaftierten missbraucht die Lockerungen.

Bayern, Hessen, Niedersachsen und das Saarland haben gleichwohl in ihren neuen Gesetzen den geschlossenen Vollzug zur Regelvollzugsform erklärt. In anderen Bundesländern - zumal in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern - werden, wie der Strafvollzugsexperte Frieder Dünkel von der Universität Greifswald lobt, "erstaunlich fortschrittliche Ideen verfolgt": Dort wird der offene Vollzug betont, dort wird viel Wert gelegt auf die Übergangsphase, also auf den gut betreuten Weg aus dem Gefängnis zurück in die Gesellschaft: Schon Monate vor der Entlassung nehmen Beamte in der Justizvollzugsanstalt Kontakt mit den Bewährungshelfern auf, sie werden dafür extra geschult.

Brandenburg macht Vollzugslockerungen und Freigang allein von der Prognose abhängig, nicht von der Straflänge. In Brandenburg gibt es selbst bei Lebenslänglichen keine Mindestverbüßungszeit mehr für die Gewährung von Langzeitausgängen; in anderen Bundesländern beträgt die Mindestverbüßungszeit fünf Jahre, bevor ein Gefangener einen Langzeitausgang erhalten kann; viele andere Länder sind bei einer Mindestverbüßungszeit von zehn Jahren geblieben; in Bayern muss der Gefangene zwölf Jahre warten.

Telefonieren, Pakete empfangen, Besuch des Ehepartners

Zusammengefasst: In den einen Bundesländern gibt es viele Vollzugslockerungen; in den anderen sehr wenig. In den einen Ländern gibt es gravierende Einschränkungen beim Hafturlaub, in den anderen nicht. In den einen Ländern stehen der offene und der geschlossene Vollzug gleichrangig nebeneinander; in den andere gibt es klare Prioritäten. In neun Bundesländern steht die Möglichkeit von Langzeitbesuchen im Gesetz, in den anderen nicht.

In einigen Bundesländern ist der unbeaufsichtigte Besuch von (Ehe-)Partnern möglich und wird auch gefördert, wenn dies geboten ist zum "Erhalt der Beziehung". In anderen Bundesländern ist das den Verantwortlichen eher suspekt. In Bayern wird die Möglichkeit der Gefangenen zu telefonieren auf dringende Fälle beschränkt. In anderen Ländern steht im Gesetz, dass Telefonate ermöglicht werden können; ein echter Anspruch darauf ist allerdings nur in Bremen vorgesehen. In den einen Bundesländern wird das generelle Verbot von Mobiltelefonen (zum Beispiel für Freigänger) gelockert, in den anderen nicht. Viele der neuen Landesgesetze ziehen für Gefangene die Möglichkeit, das Internet zu nutzen, zumindest in Betracht, Bayern und Baden-Württemberg tun das gar nicht.

Die Frage lautet: Ist das alles gerecht? Kann man es als rationalen Strafvollzug bezeichnen, wenn der Vollzug parteibuchabhängig ist? Cuius regio, eius religio - so heißt die Kurzform des im Augsburger Religionsfrieden und im Westfälischen Frieden niedergelegten Rechtsprinzips: wes der Fürst, des der Glaub'. Damals, vor mehr als vierhundert Jahren, war der Herrscher eines Landes berechtigt, die Religion für dessen Bewohner vorzugeben. Das gilt nun offenbar in neuer Form im Strafvollzug.

Solange für den Strafvollzug ein Bundesgesetz galt, wurde über Reformen bundesweit diskutiert. Resozialisierung war ein Wort, mit dem die Öffentlichkeit etwas anfangen konnte. Über die Details wurde viel gestritten, oft in ganzseitigen Texten in den Feuilletons. Das ist vorbei. Debatten über den Strafvollzug sind sehr selten geworden. Der Strafvollzug in Deutschland ist zerbröselt, die Debatte über seine Reform ist es auch.

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