Hängepartie in Berlin:Die Koalitionäre ringen mit der Wirklichkeit

  • Eigentlich verhandeln Union und SPD sagenhaft schnell. Die Einigung auf einen Koalitionsvertrag wird aber noch bis mindestens Dienstag dauern.
  • Die große Koalition verlangt allen Beteiligten große Zugeständnisse ab. Zugeständnisse, die trotzdem als Triumph verkauft werden sollen.
  • Ausgerechnet besonders umstrittene Punkte, etwa in der Arbeitsmarktpolitik, entpuppen sich als besonders kompliziert.

Von Nico Fried und Robert Roßmann, Berlin

Am Montagmittag ist wieder ein Schritt getan. Martin Schulz verkündet in sozialen Netzwerken die Einigung über das Kapitel Europapolitik. Man habe mehr Investitionen beschlossen und ein "Ende des Spardiktats", schreibt er. Das ist eine Interpretation des SPD-Vorsitzenden für sein renitentes Parteivolk.

Es klingt wie ein Triumph über Angela Merkels bisherige Europapolitik. Es soll helfen, doch noch die Begeisterung der Genossen für eine große Koalition zu wecken, auch wenn der Begriff vom "Ende des Spardiktats" sicher nicht im Koalitionsvertrag steht. Merkel lässt die Einlassungen des SPD-Chefs unkommentiert. Schließlich ist auch sie auf die Zustimmung der sozialdemokratischen Basis angewiesen, wenn sie Kanzlerin bleiben will.

Machen die nur Show oder ist das echt?

Das zähe Ringen um den Koalitionsvertrag ging auch am Montag weiter. Und an diesem Dienstag wird es fortgesetzt. Noch ein paar Stunden. Noch ein Tag? Wirklichkeit und Wahrnehmung klaffen allerdings auseinander: Denn eigentlich sind Union und SPD sagenhaft schnell. Gerade mal acht Tage haben sie bislang über eine neue Koalition verhandelt. Aber die Ungeduld nicht nur der Bürger, sondern auch mancher Verhandler ist ja auch nicht in der vergangenen Woche entstanden, sondern in den 18 Wochen, die davor seit der Bundestagswahl schon ergebnislos vergangen waren.

Deshalb drängt sich die Frage auf: Machen die nur Show, oder ist das echt? Schlagen die Verhandler nur die Zeit tot, um vor den eigenen Leuten den Eindruck zu erwecken, man habe bis zum letzten Punkt eisenhart gekämpft? Oder sind die Unterschiede doch so groß und die Themen so kompliziert? Ist das alles nur für die Galerie oder doch für die gute Sache?

Tatsache ist: Keine Konstellation verlangt allen Beteiligten so viele gegenseitige Zugeständnisse ab wie eine große Koalition. Oder, wie der Hauptgeschäftsführer des Wirtschaftsflügels der Union twitterte: Ein Koalitionsvertrag sei, "wenn Papa Urlaub in den Bergen machen will und Mama am Meer - und am Ende fahren alle missmutig zum Baggersee nach Castrop-Rauxel".

Hinzu kommt: Gerade die besonders umstrittenen Punkte sind auch besonders kompliziert. Am Montag begannen die 15 Hauptverhandler von CDU, CSU und SPD am Vormittag mit dem Thema sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen. Und am Nachmittag saßen sie noch immer dran. Die SPD muss die Union hier zu einer erkennbaren Reduzierung der befristeten Arbeitsverhältnisse überreden. So hat es der SPD-Parteitag als eine Bedingung für die große Koalition beschlossen. Die Union möchte vor allem den Unternehmern Flexibilität erhalten. Die Sache ist also politisch schwierig. Sie ist aber auch juristisch komplex. Und weil es viele befristete Arbeitsverhältnisse auch im öffentlichen Dienst gibt, ist es zudem eine Frage des Geldes.

"Private Investoren angereizt" - mancher Koalitionär ringt auch mit der Sprache

Apropos Geld: Bayerns Noch-Finanzminister Markus Söder ist ein gutes Beispiel dafür, wie man sich täuschen kann. Söder gehört gar nicht zum offiziellen Verhandlungsteam der CSU. Der designierte bayerische Ministerpräsident hatte darauf verzichtet, weil er Politik im Freistaat möglichst deutlich von der Politik der CSU im Bund trennen will.

Und vielleicht auch, weil es Angenehmeres im Leben eines Politikers gibt als Koalitionsgespräche: Als die Verhandler in Berlin am vergangenen Freitag zu ihrer Abschlussklausur zusammenkamen, ließ sich Söder gerade in den bayerischen Prinzregenten Luitpold verwandeln. In diesem Kostüm reüssierte er bei der legendären Fastnacht im fränkischen Veitshöchheim.

Über den Prinzregenten heißt es, er habe anders als die Könige vor ihm einen präsidial-repräsentativen Regierungsstil gepflegt und sich bei politischen Entscheidungen sehr zurückgehalten. Am Samstag tauchte Söder dann auch noch beim "Ball der Union" in Nürnberg auf. Erst am Sonntagvormittag erschien er in Berlin. Seehofer und er hatten vereinbart, dass Söder an den Schlussrunden der Verhandlungen teilnimmt. Es klang nach ein paar Stunden. Doch am Sonntagabend war man immer noch nicht fertig. Söder fuhr noch am selben Tag zurück nach Bayern. Kein so toller Sonntag.

Der Vertragsentwurf ist auf 180 Seiten angeschwollen

Bei Koalitionsverhandlungen geht es aber nicht nur um schwierige Kompromisse. Viel ist auch aufwendiges Handwerk. Wenn die diversen Arbeitsgruppen Papiere vorlegen, gibt es Überschneidungen. Da schreiben die Bildungspolitiker auch etwas zur digitalen Zukunft in ihr Papier, an Schulen zum Beispiel - und die Digitalpolitiker schreiben in ihr Papier etwas zur technischen Modernisierung der Bildungspolitik, an Schulen zum Beispiel.

Bis die Beschlüsse im Einvernehmen harmonisiert und die Dubletten beseitigt sind, bedarf es vieler Gespräche, schließlich hat jede Arbeitsgruppe über ihre Zeilen auch schon stundenlang verhandelt. Dass manch einer dabei nicht nur mit dem potenziellen Koalitionspartner ringt, sondern auch mit der Sprache, dokumentierte eindrucksvoll der Staatsminister im Kanzleramt, Helge Braun (CDU). Aus der AG Digitales berichtete er vom Plan eines Fonds, mit dem "private Investoren angereizt werden", und von einem neuen "Instrument der eigenen Digitalinvestierung".

Fachpolitiker quetschen zudem nicht nur Worte, sondern gerne auch politisch Kleinteiliges in den Text, vielleicht, weil sie glauben, ein dicker Vertrag dokumentiere auch ihren individuellen Ertrag. So freuten sich die Digitalpolitiker besonders darüber, dass eine etwaige Koalition E-Sports, umgangssprachlich auch Computerspiele genannt, zu olympischen Ehren verhelfen will.

Deshalb konnte es niemanden überraschen, als am Montagmorgen der stellvertretende CDU-Vorsitzende Volker Bouffier zu berichten wusste, dass der Entwurf des Koalitionsvertrages mittlerweile 180 Seiten habe. Wenn das Konvolut der Ergebnisse aus 18 Arbeitsgruppen aber nicht dicker werden soll als der Roman "Ulysses" von James Joyce, der zufälligerweise auch aus 18 Episoden besteht, müssen die Chefs am Ende streichen, streichen, streichen.

Am Montag, als die Sonne über Berlin längst versunken war, verhandelten Union und SPD noch immer über die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen und die Angleichung der Arzthonorare von privaten und gesetzlichen Krankenkassen. Gegen 19.30 Uhr beschlossen sie erneut eine Unterbrechung. Noch ein Tag. Noch ein paar Stunden. Mindestens.

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