Drei Monate nach den blutigen Anschlägen von Paris blickt die Welt erneut besorgt und verunsichert nach Frankreich. Die selbsternannten Cyber-Dschihadisten, die in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag den Fernsehsender TV5 Monde lahmlegten, mussten dafür keinen einzigen Schuss abfeuern. Auch ein schwarzer Bildschirm ist ein mächtiges Symbol.
Schon wieder also eine "nicht hinnehmbare Verletzung der Informations- und Meinungsfreiheit", wie der französische Premierminister Manuel Valls per Twitter mitteilte. Schon wieder Paris, schon wieder Frankreich. Wieso?
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Hollande habe einen "unverzeihlichen Fehler" begangen
Es gibt dafür eine Reihe von Anhaltspunkten, und den ersten haben die Cyberterroristen in den Videos, die sie über die Website des gekaperten Fernsehsenders und dessen Social-Media-Auftritte verbreiteten, selbst genannt: die französische Beteiligung an den Luftschlägen gegen den IS. François Hollande habe einen "unverzeihlichen Fehler" begangen, als er im vergangenen September französische Soldaten in den Kampf gegen die Terrormiliz schickte. Sie führten dort "einen Krieg, der nichts bringt", für den die Franzosen aber im Januar ein "Geschenk" erhalten hätten: den Angriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo und einen koscheren Supermarkt in Paris.
Exklusiv Versorgungsengpässe für Terrormiliz:Der IS sitzt auf dem Trockenen
Reiche Terrorbande in Geldnot: Laut Bundesnachrichtendienst haben die Terroristen des IS im Irak die Kontrolle über große Ölfelder verloren. Damit entgeht der islamistischen Miliz eine wichtige Einnahmequelle.
Und die Cyberterroristen wandten sich auch direkt an die Truppen. "Soldaten Frankreichs", war zu lesen, "haltet euch fern vom Islamischen Staat! Ihr habt die Chance, eure Familien zu retten, nutzt sie". Und um dieser Drohung Nachdruck zu verleihen, zeigten sie Bilder von Ausweisen und Lebensläufen von Familienangehörigen französischer Soldaten.
Wer sich engagiert, exponiert sich
Wer sich engagiert, exponiert sich auch. Frankreich ist militärisch in vielen Ländern involviert, vor allem in Afrika und dem Nahen Osten - ein Erbe der Kolonialzeit. Knapp 8000 Soldaten hat Frankreich im Ausland stationiert, das sind mehr als doppelt so viele wie Deutschland. Eine aktive, an die französische Weltgeltung anküpfende Außenpolitik gehört ebenso zur Staatsraison der Grande Nation wie die Bereitschaft zum schnellen Eingreifen in Krisengebieten, siehe Libyen 2011, siehe Mali 2013.
Doch die Rolle als Welt-Hilfspolizist droht, die französischen Kräfte zu überspannen. Das Land wünscht sich mehr Unterstützung, auch von Deutschland. Erst vor wenigen Wochen forderte der französische Verteidigungsminister mehr Unterstützung der europäischen Partner. "Wir sind 28 Staaten in der Europäischen Union", sagte Jean-Yves Le Drian, "aber wie viele sind wir, die wirklich an der Lösung von Krisen in unserer Nachbarschaft teilnehmen?"
Der Angriff ist nicht nur eine Drohgebärde. Er ist auch ein Machtbeweis
Der erfolgreiche und offenbar von langer Hand geplante Angriff auf TV5 Monde ist aber nicht nur eine Drohgebärde. Er ist vor allem auch ein Machtbeweis. Der Sender steht für maximale Reichweite. Er wird von Frankreich, Belgien, der Schweiz und Kanada gemeinsam getragen und ist in mehr als 200 Ländern zu empfangen. Nach eigenen Angaben schalten Woche für Woche 55 Millionen Menschen ein. TV5 Monde bezeichnet sich selbst neben MTV und CNN als einen der drei größten internationalen Fernsehsender - ein globaler Resonanzraum für die Botschaften des IS.
IS-Terror:Der Mythos vom Kalifat
Die Terrormiliz IS wurzelt in radikaler Ideologie, die sich auf den frühen Islam beruft. Mit der Herrschaftsform der direkten Nachfolger Mohammeds ist ihr brutales Vorgehen aber keineswegs vereinbar.
Der "in der weltweiten Geschichte des Fernsehens beispiellose Angriff" hat den Sender "ins Herz getroffen". So steht es auf der Homepage, die mittlerweile wieder zugänglich ist.
Steinzeit-Ideologie auf Neuzeit-Kanälen
Dass die Terroristen nicht nur den Fernsehsender selbst, sondern in einer offenbar konzertierten Aktion auch dessen Social-Media-Auftritte unter ihre Kontrolle brachten, bestätigt einmal mehr: Die Gotteskrieger verbreiten ihre Steinzeit-Ideologie auf Neuzeit-Kanälen.
Nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo startete die französische Regierung eine Kampagne namens #stopdjihadisme, die gezielt die Facebook- und Twitter-Propaganda des IS untergraben soll. In einem Video werden die Versprechungen des IS mit der Realität des Kalifats konfrontiert: "Sie sagen, du wirst einer gerechten Sache dienen? Sie sagen, du wirst eine Familie mit einem ihrer Helden gründen? Sie sagen, du wirst den syrischen Kindern helfen? Du wirst die Hölle auf Erden erleben und allein sterben, weit weg von zu Hause."
Ob solche Kampagnen wirklich etwas bringen, ist fraglich. Die meisten europäischen IS-Kämpfer kommen aus Frankreich, viele von ihnen werden über Facebook und andere soziale Netzwerke rekrutiert. Und gemessen an der Einwohnerzahl rekrutiert der IS die meisten Kämpfer in Belgien. TV5 Monde kann man in beiden Ländern empfangen. Und auch wenn der Sender jetzt seine Kanäle langsam wieder unter Kontrolle bekommt: Das gesamte Netz kann keiner kontrollieren.