Wie groß ist eigentlich die Not der Kanzlerin? Angela Merkel erlebt nicht ihre erste Krise im Regierungsamt. Aber es ist wohl das erste Mal, dass sie sich auf offener Bühne und in wenigen Minuten selbst noch so viel tiefer hineingeredet hat. Merkels Trennung des Politikers Karl-Theodor zu Guttenberg vom Wissenschaftler Karl-Theodor zu Guttenberg ist ihrer Klugheit unwürdig. Die Verbindung zwischen der Doktorarbeit und der Ministerarbeit ist die Integrität Guttenbergs.
Diese Verbindung ist so unübersehbar wie eine geschlossene Bahnschranke und so fest wie ein Achterknoten. Wenn Merkel sie ignoriert, verrät die Kanzlerin schlicht den politischen Faktor der persönlichen Glaubwürdigkeit, dem sie selbst ihre Wiederwahl mit zu verdanken hat.
Merkel ist also mal wieder in der Krise. Wohl aber war noch keine Krise vorher so vielseitig. Merkel muss ohne Mehrheit regieren, seit der Wahl von Hamburg und der desaströsen Niederlage ihrer CDU deutlicher als jemals zuvor. Merkel muss zusehen, wie andere einfach mitregieren, Ministerpräsidenten zum Beispiel, um eine Hartz-IV-Reform doch noch auf den Weg zu bringen. Merkel muss Rücksichten nehmen auf angeschlagene Minister, heißen sie nun Westerwelle oder Guttenberg, wenn nicht sie als Kanzlerin und ihre ganze Regierung von deren Elend angesteckt werden soll. Ja, die Not ist groß, aber bisher war sie wenigstens überschaubar. Bis zu diesem Montag.
Als im Mai 2010 mit der Niederlage in Nordrhein-Westfalen der kurze schwarz-gelbe Traum vom "Durchregieren" zu Ende war, gelang es der Kanzlerin immerhin noch, trotzdem handlungsfähig zu wirken. Damals stoppte Merkel die Steuersenkungswünsche der FDP.
Das Frühjahr des Gewurschtels
Nach den Sommerferien rief die Kanzlerin dann den Herbst der Entscheidungen aus, der mit drei Beschlüssen endete: einer Hartz-Reform, die allerdings jetzt erst fertig wird, obwohl sie schon seit Jahresbeginn in Kraft sein sollte; einem Atomkompromiss, dessen Gültigkeit allerdings noch vor Gericht geprüft wird; einer Bundeswehr-Reform, deren Grundzüge allerdings Merkels Kanzleramt selbst als unzureichend kritisiert und von der niemand weiß, wie sie bezahlt werden soll.
Dem Herbst der Entscheidungen folgt also zwangsläufig das Frühjahr des Gewurschtels. Was von all den Problemen auf den ersten Blick am schwierigsten erscheint, ist dabei wahrscheinlich sogar noch Merkels geringstes Problem, gleichwohl ist es nicht wirklich klein: Die Bundesratsmehrheit ist verloren, aber genau genommen hat sie nie existiert. Um in der Länderkammer auf Widerstand zu stoßen, bedarf es keiner Opposition. Ministerpräsidenten stellen immer Ansprüche, auch und vielleicht gerade wenn eine Kanzlerin aus der eigenen Partei ihre Stimme braucht.
Bei der Hartz-IV-Reform hat Merkel nun sogar ganz offen die Milliarden des Bundes für die Länder angeboten. Sich dieses Geld nicht durch die Lappen gehen zu lassen, war der wichtigste Grund dafür, dass sich schließlich die Ministerpräsidenten der blockierten Verhandlungen bemächtigten. An dieser Stelle ist Merkels Kalkül mit dem Lockruf des Geldes sogar aufgegangen. Dass ausgerechnet Horst Seehofer und Kurt Beck, deren Verhältnis zur Kanzlerin nicht von Wärme und Herzlichkeit geprägt ist, nun diesen Erfolg einfahren, kann letztlich allen recht sein, auch wenn es für Merkel nicht billig war.
Guttenberg und die Plagiatsaffäre:Abgeschrieben
Fünf Wochen nach dem Rücktritt des Verteidigungsministers stellt die Uni Bayreuth fest, dass Karl-Theodor zu Guttenberg in seiner Doktorarbeit absichtlich getäuscht haben muss. Vom Siegeszug des fränkischen Provinzpolitikers nach Berlin bis zum jähen Ende seiner Karriere - in Bildern.
Die Hartz-IV-Reform ist jedoch auch ein Ergebnis der unerfreulichen Rücksichten, die Merkel in ihrer Regierung nehmen muss. Und die sind ein weitaus größeres Problem als fehlende Mehrheiten. Die Verhandlungen über den Regelsatz waren von Beginn an belastet durch das Geschwätz des Vizekanzlers von drohenden Dekadenz-Zuständen.
Damit hat Guido Westerwelle seiner FDP geschadet, von sich selbst ganz zu schweigen. Mit jedem weiteren Euro für Hartz-IV-Empfänger wäre Merkel deshalb in Verdacht geraten, ihn noch mehr schwächen zu wollen. Die Kanzlerin hat sich schon damals Spielraum nehmen lassen.
Jetzt behaupten Union und FDP, hinter dem Regelsatz stünden politische Wertentscheidungen. Das stimmt, es sind genau drei: Hartz-IV-Empfänger sollen nicht rauchen, sie sollen nicht trinken, und Guido Westerwelle soll nicht stürzen.
Die Angst der Kanzlerin vor den Guttenberg-Fans
Was aber lernt Merkel daraus? Wo soll nun die Rücksichtnahme auf den Verteidigungsminister enden? Wie viel Freiraum überlässt die Kanzlerin dem Freiherrn? Merkel hat suggeriert, Guttenberg könne auch bleiben, falls ihm der Doktortitel aberkannt werde, schließlich habe sie einen Verteidigungsminister berufen und keinen wissenschaftlichen Assistenten. Nach dieser Logik sind im Kabinett Schwindler und Hochstapler künftig willkommen.
Und die Entscheidung über die politische Zukunft Guttenbergs gibt Merkel damit aus der Hand, vermutlich in voller Absicht: Sie will nicht die Verantwortung für den Zorn der Union und der Guttenberg-Fans im ganzen Land auf sich ziehen, sollte der vermeintliche Mann der Zukunft sich in seiner Vergangenheit verheddern.
Der Verteidigungsminister kann zufrieden sein. Karl-Theodor zu Guttenberg steht nicht mehr in der Abhängigkeit der Kanzlerin. Sondern umgekehrt. So groß ist jetzt die Not.