Gutachter:Im Schatten des Zweifels

Der Bedarf ist enorm. Deshalb setzen die Medizinischen Dienste der Kassen nun häufiger private Experten ein. Aber wie unabhängig sind die?

Von Kristiana Ludwig

Der Gutachter steht bei seiner Arbeit. Auch wenn es fast immer freie Stühle gibt: In den Wohnungen, die er jeden Tag besucht, möchte er sich nicht setzen. Denn wer den Gutachter zu sich nach Hause bestellt, bittet ihn, ein Leben zu betrachten, in dem es nicht mehr weitergeht. Er sieht dann Menschen, die sich nicht mehr versorgen können, die ihr Haus nicht mehr putzen, keine Briefe mehr öffnen, ihre Kleidung nicht wechseln. Diese Menschen bitten ihre Krankenkasse um Geld. Vom Gutachter des medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) aber erwarten sie Gerechtigkeit.

"Der Job nimmt einen mit", sagt Henrike Kaesler von der Gewerkschaft der Sozialversicherung. Sie vertritt viele Gutachter des MDK. In den vergangenen Jahren seien die Tage der Gutachter des MDK immer voller geworden, sagt Kaesler, weil ihre Aufgaben komplexer wurden. Und damit stieg auch ihre Belastung. Nicht nur die Gutachter, die Pflegebedürftige zu Hause besuchen, hätten immer mehr zu tun. Auch diejenigen, die im Auftrag der Krankenkassen Kliniken und Ärzte, arbeitsunfähige Patienten oder beispielsweise Anträge auf Rollstühle überprüfen, seien überlastet.

Der Bundesrechnungshof hat in einem Bericht an den Haushaltsausschuss des Bundestags, welcher der Süddeutschen Zeitung vorliegt, diese Überbeanspruchung des MDK deutlich kritisiert: "Medizinische Dienste waren in vielen Fällen für die von ihnen zu bewältigenden Aufgaben nicht hinreichend finanziert", heißt es hier. Rund 4700 Mitarbeiter haben die Dienste im Augenblick bundesweit. Zwar sei das Personal zwischen 2008 und 2014 deutlich erhöht worden. Die Zahl der Pflegegutachter stieg in diesem Zeitraum um 69 Prozent und die der Ärzte um sieben Prozent. Doch trotzdem gelinge es den Gutachtern überwiegend nicht, "ihre Aufgaben in der regulären Arbeitszeit zu erledigen".

Die Überlastung der MDK-Mitarbeiter habe auch für die Patienten, die auf ein faires und medizinisch korrektes Urteil angewiesen sind, negative Konsequenzen, lautet das Resümee des Rechnungshofs. Fünf der 16 Medizinischen Dienste, die grob nach Bundesländern sortiert sind, hätten zwischen einem und zwei Drittel ihrer Fälle von externen Gutachtern erledigen lassen - also von Privatunternehmen oder Experten, die hauptberuflich in Pflegeheimen, Krankenhäusern oder Arztpraxen arbeiten. Tendenz steigend. Das sei problematisch, weil diese Experten in einem "Interessenkonflikt" stünden, heißt es im Rechnungshofbericht. Ihre medizinischen Einschätzungen seien nicht unabhängig von den finanziellen Interessen ihres Arbeitgebers, zum Beispiel.

Dabei sollten die Medizinischen Dienste der Krankenkassen eine unbestechliche Instanz sein. Weder die knauserigen Krankenkassen noch die Ärzte und Kliniken, die Geld für ihre Behandlungen bekommen möchten, dürfen für die MDK-Gutachter eine Rolle spielen. Sie sind "nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen", steht im Gesetz.

Ein Sprecher der Ärztegewerkschaft Marburger Bund sagt, den Kassen gehe es beim Einsatz der externen Gutachter wohl vor allem um den "Faktor Zeit": Sie wollen schneller wissen, wie viel Geld sie zahlen müssen und wollen nicht auf ihre überlasteten Dienste warten. Vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen heißt es dagegen, der Einsatz fremder Experten sei ein "sinnvolles Instrument, um eine zeitnahe und bedarfsgerechte Begutachtung zu unterstützen". Insgesamt hätten die Medizinischen Dienste im vergangenen Jahr nur sieben Prozent der mehr als acht Millionen Aufträge an externe Firmen oder Ärzte vergeben. Auch von einer "generellen Personalunterdeckung in den MDK kann nicht gesprochen werden", sagt ein Verbandssprecher. Auf die steigende Belastung, die etwa durch die jüngste Umwandlung der Pflegestufen zu Pflegegraden entstanden sei, hätten die Dienste natürlich auch mit zusätzlichem Personal reagiert.

Gesundheitsminister Gröhe will, dass die Kassen mehr Gutachter beschäftigen

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sieht das anders. "Eine angemessene Personalausstattung des Medizinischen Dienstes ist unerlässlich und muss von den Bundesländern als Aufsicht noch stärker überwacht werden", sagt er der SZ. Gerade bei den Prüfungen bei Ärzten und Kliniken hätten die Medizinischen Dienste zu wenig Beschäftigte. Deren Zahl müsse "stärker an die Aufgaben angepasst werden", sagt Gröhe. Der Rechnungshof hatte den Minister gedrängt, "eine auskömmliche Finanzierung" sicherzustellen. Auch um das Problem der externen Gutachter will sich der Minister kümmern. Um ihre Unabhängigkeit zu garantieren, seien "klare Vorgaben" nötig.

In Bayern hat sich vor Kurzem auch das Landessozialgericht in zwei Urteilen gegen den Einsatz fremder Experten gewandt. Um einzuschätzen, ob eine Krankenkasse eine Zahnbehandlung übernehmen muss, dürfe sie nicht - so wie es bislang offenkundig üblich ist - "nach Belieben" einen Gutachterdienst anrufen. Sondern sie müsse den MDK beauftragen. Dessen Mitarbeiter in Bayern stellen sich nun auf zusätzliche Arbeit ein.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: