Günter Grass und die DDR:Der falsch Verstandene

Imposanter Provokateur: Günter Grass war nicht Verharmloser, sondern aufrechter Sozialdemokrat - seine Stasi-Akte erscheint in Buchform.

Jens Bisky

Als Hans Mayer im März 1961 den Verfasser der "Blechtrommel" zu einer Lesung nach Leipzig geladen hatte und dieser im Hörsaal vor den Akademikern stand, unter ihnen Ernst Bloch, dem man das Lehren schon verboten hatte, überbrachte Günter Grass Grüße von Uwe Johnson - Johnson hatte in diesem Hörsaal studiert, die DDR 1958 verlassen müssen.

Es gab, erinnert sich Grass, großen Beifall für die Grüße, dann aber sei ein Assistent ans Mikrofon gegangen: ",Wir haben Grüße gehört von Uwe Johnson. Uwe Johnson hat unsere Republik verlassen und verraten.' Und der fügte ironisch hinzu: ,Für solche Grüße bedanken wir uns.' Da wurde er ausgezischt."

Im Mai desselben Jahres, in Ostberlin auf dem V. Schriftstellerkongress, kam Grass wieder auf Johnson zu sprechen. Er verteidigte ihn gegen Angriffe Hermann Kants, berichtete, wie man Johnson "alle wirtschaftlichen Möglichkeiten" entzogen habe, in der DDR zu existieren, dass man nun sogar seine Übersetzung von "Israel Potter" ohne Nennung des Übersetzers herausgegeben habe. Da erntete er wieder Beifall im Saal und Wut unter den Funktionären. Sie wurde nicht kleiner, als Grass Freiheit des Wortes forderte, die im Westen gefährdet sei, die es im Osten aber nicht gebe.

Wie Hermann Kant seinen westdeutschen Schriftstellerkollegen einschätzte, hielt nach einem Gespräch mit der Kontaktperson "Kant" im Juli 1961 ein Leutnant Schindler vom Ministerium für Staatssicherheit fest: "GRASS ist ein Mensch ohne jede feste politische Einstellung und Haltung. Er schießt praktisch nach beiden Seiten und kommt sich dabei sehr imposant vor. Er möchte als ein Freiheitsapostel erscheinen."

Da wurde er ausgezischt

Im August des Schicksaljahres protestierte Grass scharf gegen den Mauerbau, schrieb offene Briefe an Anna Seghers und, gemeinsam mit Wolfdietrich Schnurre, an den Schriftstellerverband. Am 18. August begann die systematische Stasi-Überwachung des Schriftstellers. "Angefallen wegen Provokation" stand auf dem Suchzettel. Bis zum Ende war Grass bei den DDR-Oberen nicht gern gesehen.

Wie das MfS ihn observieren ließ, dem berühmten Schriftsteller beizukommen suchte, kann man jetzt nachlesen. Kai Schlüter, Redakteur bei Radio Bremen, hat aus etwa 2200 Aktenseiten die wichtigsten ausgewählt, hat Zeitzeugen interviewt oder um Kommentare gebeten. Herausgekommen ist ein spannendes, lehrreiches Dokument der deutschen Literatur- und Teilungsgeschichte (Kai Schlüter: Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte. Ch. Links Verlag, Berlin 2010. 384 Seiten, 20 Abb., 24,90 Euro).

Das gescheite Buch verrät viel über die Furcht der Machthaber, Farce und Schrecken der Überwachung, Mut und Anpassung unter Literaten. Vor allem aber ist es geeignet, das Bild zu korrigieren, das sich die Öffentlichkeit von Günter Grass macht. Da er die Einheit, wie Kohl sie wollte, maßlos scharf kritisierte, da er die DDR eine "kommode Diktatur" nannte, wurde er als Verharmloser attackiert. Seine Stasi-Akte aber zeigt: Nur wenige haben mehr für dafür getan, das deutsch-deutsche Gespräch am Leben zu erhalten, als Günter Grass.

Er blieb aufrechter Sozialdemokrat, und das hieß in der DDR, die auf der Ausschaltung aller Sozialdemokratie beruhte: Staatsfeind. Im Juni 1989 schickte die Hauptabteilung XX eigens einen Major in den Norden der Republik, da Grass auf Rügen und Hiddensee lesen sollte. Generalleutnant Kienberg informierte: "Grass besitzt seit Jahren Kontakte zu feindlichen und oppositionellen Personenkreisen aus der DDR, hat mehrfach an Zusammenkünften derartiger Personen in der DDR teilgenommen und dabei stets eine inspirierende, auf die Organisierung politischer Untergrundtätigkeit abzielende Rolle gespielt.

Er propagiert die These von der ,Einheit der deutschen Kulturnation' und anderen durch die SPD in ihrer ,Ost- und Deutschlandpolitik' vertretene Theorien und setzt sich aktiv für uneingeschränkte Menschenrechte, Meinungs- und Informationsfreiheit ein." Seit 1980 hatte Grass Einreiseverbot, das aber aus Opportunitätsgründen immer wieder mal aufgehoben wurde.

"Grass und seine Ehefrau sauber und ordentlich gekleidet"

So wie Grass Uwe Johnson zur Seite gestanden hatte, unterstützte er später Hans Joachim Schädlich, half diesem, einen Verlag im Westen zu finden, nahm ihn in seinem Haus auf. Gemeinsam mit Schädlich und Bernd Jentzsch organisierte Grass seit 1974 eine Reihe von deutsch-deutschen Schriftstellertreffen in Ostberliner Privatwohnungen.

Die meisten haben sehr freundliche Erinnerungen daran. Grass war in dieser Gruppe der anerkannte Meister, von beharrlicher Freundlichkeit und obendrein selbstironisch. Bettina Wegner und ihrem damaligen Mann Klaus Schlesinger gab er ein Exemplar des Butt mit der Widmung: "Für Bettina und Klaus. Wenn sie mal wieder Eheprobleme haben, sollen sie den Butt lesen, dann schlafen sie ein und alles wird gut."

Mit der "Gruppe 74" ist auch eine Familientragödie verbunden. Hans Joachim Schädlichs Bruder Karlheinz bespitzelte auch den prominenten Gast aus dem Westen. 2007 erschoss er sich auf einer Parkbank. Susanne Schädlich hat die Ereignisse in ihrem bedrückenden Buch Immer wieder Dezember dargestellt. Zu den Autorentreffen hatte Karlheinz Schädlich nie eine Einladung erhalten. Wie er sich dennoch vor den Stasi-Leuten wichtig machte, kann man nun nachlesen.

Grass wurde durch seinen Ruhm geschützt

Obwohl es nichts Neues ist, staunt man doch, mit wie vielen Inoffiziellen Mitarbeitern Grass zu tun hatte, sobald er offizielle Kontakte pflegte. Im Jahr 1961 eingeladen hatte ihn Erwin Strittmatter, der auch als Geheimer Informator "Dollgow" tätig wurde. Der mächtige Hermann Kant war "IM Martin", der Lyriker Paul Wiens war "IM Dichter".

Der Chef des Berliner Ensembles, Manfred Wekwerth, als Brecht-Schüler ohnehin sauer auf den Autor des Stücks Die Plebejer proben den Aufstand, in den Achtzigern Präsident der Akademie der Künste, steht in den Akten als Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit "Manfred". 1984 verlegte der Leipziger Reclam-Verlag Das Treffen in Telgte, das erste im Osten erscheinende Werk von Grass. Der verdienstvolle Verleger Hans Marquardt berichtete als IMB "Hans", und er tat dies auch noch im Ruhestand.

Günter Grass wurde durch seinen Ruhm geschützt. Aber auch andere, viel verletzlicher, agierten ohne Angst. So erzählt die Lyrikerin Elke Erb über die Treffen in den siebziger Jahren: "Ich bin zu diesen Runden immer gern gegangen. Wir brauchten keinen Mut, um uns dort zu treffen, wir hatten einen gestiegenen Zorn in uns, die Mutfrage spielte eigentlich keine Rolle mehr. Die Stasi haben wir nicht mehr ernst genommen, nicht mehr beachtet.

Das Regime hatte längst seinen Kredit eingebüßt, seine Hoheit verspielt. Wir fragten uns, warum kümmern die sich nicht um die wirklich wichtigen Dinge im Land, um Korruption, um alles, was in der Produktion nicht klappte, wieso beschäftigen die sich so mit uns. Die Regierung und die Partei waren ja viel wichtiger, die Stasi ist ja erst im Nachhinein so hochgespielt worden."

Es ist die Stärke dieses Lesebuches, dass es die Akten ernst nimmt, ihnen aber nicht das letzte Wort lässt. Hermann Kant und Manfred Wekwerth haben auf die Interviewwünsche des Herausgebers nicht reagiert, Hans Joachim Schädlich verspürt angesichts des Themas nur noch Ekel, Frank-Wolf Matthies, der 1980, kurz nachdem Grass ihn besucht hatte, verhaftet wurde, hat mit der Vergangenheit abgeschlossen.

Von der sympathischsten Seite

Ein wütendes Lachen ist sie allemal wert. Etwa wenn man die Beobachtungsprotokolle liest, angefertigt zu den Lesereisen, die Günter Grass von 1987 bis 1989 durch den Arbeiter- und Bauernstaat führten. Aus Erfurt etwa hören wir: "Grass und seine Ehefrau waren im Beobachtungszeitraum sauber und ordentlich gekleidet. Grass ist starker Pfeifen- und Zigarrenraucher. Das Ehepaar Grass interessierte sich ausschließlich für kirchliche Einrichtungen sowie für Buchhandlungen und Antiquitätengeschäfte."

Der freudlose Kleingeist prägte nicht nur das Tschekisten-Geschäft, er lenkte auch die Verlagspolitik. Eigentlich hätte Grass gut ins Programm des Aufbau-Verlags gepasst, aber man ließ Katz und Maus und Die Blechtrommel im Verlag Volk und Welt erscheinen. Dass dessen Leiter IM war, überrascht nicht. "Volk und Welt" war im gut sortierten Kulturleben des "Leselandes" für ausländische Literatur zuständig. Man wusste, wie sehr Grass von der Unteilbarkeit der Kulturnation überzeugt war, und wollte ihn auf diese Weise kränken.

"Was zeitgeschichtlich relevant ist, soll erforscht werden, bitte, keine späte Rache!" hatte Günter Grass Anfang des Jahres 2002 an die Unterlagenbehördenchefin Marianne Birthler geschrieben. Das Lesebuch zur Akte löst diesen Anspruch ein. Und es zeigt den politischen Dichter Günter Grass von seiner sympathischsten Seite: als Wortführer der Freiheit, als einen, der für andere eintritt und Verfolgten hilft.

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