Hätte er sich selbst, so wie er heute ist, vor fünf Jahren getroffen, dann wäre ihm nur ein einziges Wort eingefallen. Es ist ein Wort, das Darrel Vandeveld auch heute lieber leise ausspricht, hier, unter so vielen Menschen, die ihn vielleicht kennen.
Elf Jahre nach 9/11:New York gedenkt der Opfer der Terroranschläge
Elf Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center gedenkt Amerika der knapp 3000 Opfer vom 11. September 2001. In der Vergangenheit hielten bei den Gedenkfeiern in New York Politiker wie US-Präsident Barack Obama Reden. In diesem Jahr steht der persönliche Schmerz der Zurückgebliebenen im Mittelpunkt.
Traitor. Verräter.
Denn vor fünf Jahren war Darrel Vandeveld noch ein anderer. Einer, der sich mit seinem Land und seiner Aufgabe zutiefst identifizierte. Einer, der daran glaubte, dass ein Staat, der so brutal angegriffen worden war, jedes Recht habe, sich zu verteidigen. Und der dabei, wenn es sein musste, auch sein selbstgesetztes Recht brechen durfte.
Er hatte seine Grundsätze, seine Wahrheit, seinen Glauben. Er war ein guter, patriotischer Amerikaner. Er hatte keine Zweifel.
"Heute", sagt Darrel Vandeveld, "heute würden mich die meisten Leute, die hier in der Smugglers' Wharf am Seeufer sitzen, genauso als Verräter bezeichnen - wenn sie wüssten, was ich getan habe und wie ich heute denke. Sie würden es nicht aus bösem Willen tun, sondern meist nur aus Unwissenheit und Verständnislosigkeit." Weil sie gar nicht merken, was da draußen los ist. Weil sie sich so sicher fühlen können hier in dieser Stadt, mitten in einem Amerika, das sich für sie hier kaum verändert hat. Auf den ersten Blick.
"Ich war der perfekte Amerikaner"
Die Stadt, das ist Erie, Pennsylvania, ein idyllischer Ort mit wenig mehr als 100.000 Einwohnern. Er liegt am großen See desselben Namens, nicht weit von den Niagarafällen. Das hier ist Middle America, in dem das Leben für die zuletzt arg gebeutelte weiße Mittelschicht noch immer einigermaßen heil ist. So sicher ist es hier, dass man, zumindest in den grün eingewachsenen Vororten, die Haustür nicht absperrt. Deshalb war Darrel Vandeveld mit seiner Frau auch hergezogen, der Kinder wegen, sie sollten sicher aufwachsen und die guten Schulen der Stadt besuchen. Das machen vorbildliche amerikanische Eltern so.
Er war ein vorbildlicher Amerikaner. Glücklich verheiratet, Familienvater, und als stellvertretender Generalstaatsanwalt des Staates Pennsylvania auf dem besten Weg, Karriere zu machen.
Außerdem war er als guter Amerikaner im Reservistencorps der US Army - im Rang eines Majors beim JAG, der obersten Justizbehörde des amerikanischen Militärs.
Nach dem 11. September, da ist er vierzig Jahre alt, meldet er sich freiwillig für den aktiven Dienst. "Überall wollte ich hingehen", sagt er, "wo man mich hinschickte. Ich war ein Gung-Ho, ein enthusiastischer Patriot. Ich wollte mein Land verteidigen gegen diese Terroristen. Ich war der perfekte Amerikaner." Er spricht von einem Menschen, den er nicht mehr kennt.
Darrel Vandeveld hat eine hohe Sicherheitseinstufung. Man schickt ihn zuerst nach Bosnien - um Kriegsverbrecher wie Rodaadovan Karadzizc zu fangen, wie es heißt. In Wahrheit geht es schon längst um verdeckte Terrorismusbekämpfung. Darrel Vandeveld soll mit einer Spezialeinheit radikale Muslime ausfindig machen.
"Wir saßen zusammen und überlegten, wo man solche Leute hinbringen könnte, damit man sie gewissen Verhörmethoden unterziehen konnte", sagt er, "Verhörmethoden, die kein amerikanisches Zivilgericht akzeptiert hätte. Wir überlegten tatsächlich, wie wir das amerikanische Rechtssystem umgehen konnten." Sie finden nichts Schlimmes dabei, die Juristen aus dem JAG-Corps, der Justizbehörde des US-Militärs und aus dem Verteidigungsministerium. Sie brauchen doch Hinweise, sie müssen doch weitere Anschläge verhindern, und diese Informationen müssen sie notfalls auch durch Druck und Gewalt bekommen. Amerika ist angegriffen worden. Es geht um die Sicherheit ihrer Heimat. Und es geht um Rache.
Darrel Vandeveld ist sich der gerechten Sache sicher, egal wo er hingeschickt wird: an das Horn von Afrika, nach Irak, nach Kuwait. Er erhält Auszeichnungen und höchste Belobigungen von seinen Vorgesetzten. Er ist Monate, einmal fast ein ganzes Jahr von seiner Familie getrennt. Wir sind im Krieg, denkt er da noch.
Er erlebt, wie amerikanische Soldaten umkommen. Manchmal sind es gute, sogar sehr gute Freunde. Der Krieg verbindet sie, vielleicht auch, weil man nur mit denen, die ihn auch erlebt haben, überhaupt darüber reden kann. "Es sind die anderen Veteranen", sagt Darrel Vandeveld, "sie wissen, wie es dort ist, sie können noch am ehesten verstehen, warum ich das getan habe."
Vandeveld hat ein Kriegstrauma, sein verzweifelter Freund auch
In den ersten Jahren verdrängt er noch. Die gewaltsamen Tode. Die Anschläge. Die zerfetzten Körper. Die ständige, alles durchdringende Angst vor dem, was hinter der nächsten Straßenbiegung liegen könnte. Man wird kühl, distanziert, sagt er heute, man zieht sich in sich selbst zurück. Man lässt die schrecklichen Erlebnisse nicht an sich heran. "Zumindest habe ich das versucht." Da weiß er noch nicht, dass er längst an PTSD leidet, an posttraumatischer Belastungsstörung. Er hat ein Kriegstrauma, wie so viele Soldaten.
Eines Abends, Vandeveld ist gerade auf Heimaturlaub im sicheren, überschaubaren Erie, ruft ihn ein alter Freund an, sein bester. Er ist gerade wieder in Irak stationiert. Der Mann klingt aufgelöst, er sagt, dass er sich nicht mehr zu helfen wisse, dass er völlig verzweifelt sei. Dann bricht das Telefongespräch plötzlich ab, vielleicht ist das Zeitlimit für solche Anrufe in die Heimat überschritten, vielleicht ist es eine Störung. Und es gibt keine Möglichkeit zurückzurufen, Darrel Vandeveld weiß ja nicht einmal, auf welchem Posten sein Freund gerade ist.
Ein paar Tage später erfährt er dann, dass man seinen besten Freund am nächsten Morgen gefunden hat. Irgendwann, noch in der Nacht des Anrufs, muss er sich umgebracht haben. Darrel Vandeveld ist wie gelähmt. Und vergräbt sich noch tiefer in sich selbst.
Vandeveld ist ein kräftiger, durchtrainierter Mann, der dennoch erstaunlich zierlich erscheint. Das mag an seinem Gesicht liegen, es ist nicht das Gesicht eines 50-jährigen Kriegers, sondern das weiche Gesicht eines Jungen, eines Unschuldigen. Und wenn er von schrecklichen Ereignissen wie dem Tod seines Freundes erzählt, dann wird auch seine Stimme weich. Und sehr leise. "Ich will nicht selbstmitleidig sein", sagt er in solchen Momenten, "anderen ist es doch viel schlimmer ergangen als mir. Viele sind gestorben. Was habe ich schon Wichtiges aufgeben müssen?"
2007 beruft man ihn in die Militärkommission als Militärstaatsanwalt nach Guantanamo, Kuba, das sie dort kurz Gitmo nennen. Dort sitzen, zum Teil schon seit sechs Jahren, Menschen, die Amerika in Afghanistan und anderswo eingefangen hat und nun als Terroristen anklagen will. Die Beweisaufnahme, die Vorbereitungen auf Anklage und Prozesse gehen nur sehr schleppend voran.
Schon längst empören sich die Liberalen in Amerika und der Rest der Welt über das Lager, über die Behandlung der Insassen. Von Unrecht ist die Rede, von moralisch verwerflichen Zuständen, von Misshandlungen und Geständnissen, die durch Folter erzwungen wurden.
Doch noch immer ist der Jurist Darrel Vandeveld von der Rechtmäßigkeit und der Notwendigkeit dieses Lagers überzeugt. Er verbringt viel Zeit in Washington, um die Anklagen vorzubereiten. Dort herrscht, das merkt er schnell, völliges Chaos. Obwohl Beweisaufnahme und Bänder von Verhören, Geständnissen, Zeugenaussagen teilweise seit Jahren vorliegen sollten, ist nichts geordnet. Akten stapeln sich, wenig ist systematisiert, gesichtet, zugewiesen, ausgesiebt.
Ein junger angeklagter Pakistaner öffnet Vandeveld die Augen
Und da ist dieser junge Pakistaner, Mohammed Jawad, der in Afghanistan einen Anschlag auf US-Truppen verübt haben soll. Der Ankläger Vandeveld soll endlich einen Prozess gegen ihn aufbauen. Jawads Verteidiger erklärt, der Junge sei zum Zeitpunkt seiner Verhaftung erst 16 Jahre alt gewesen, also nach anderen Rechtsnormen zu behandeln; er sagt auch, dass Jawad misshandelt worden sei. In Guantanamo war er innerhalb von 14 Tagen 112-mal in eine andere Zelle verlegt worden - Schlafentzug als Foltermittel, in Guantanamo nannten sie es das Vielfliegerprogramm.
Vandeveld schmettert solche Aussagen ab, er nennt sie "idiotisch". Den Verteidiger, ebenfalls vom Militär, hält er zeitweilig für einen Sympathisanten der Terroristen.
Aber durch den jungen Pakistaner werden ihm seine eigenen Zweifel klar.
Darrel Vandeveld wird nicht von einem Tag auf den anderen vom glühenden Nationalisten zum friedensliebenden Kritiker der amerikanischen Justiz oder Außenpolitik. Nur dreimal wird er Jawad überhaupt treffen im Gerichtssaal, es ist nicht so, dass er persönliches Mitleid empfindet mit dem Jungen. Aber er entdeckt in seiner juristischen Analyse eine neue, andere Wahrheit: Dass das Recht gewahrt werden muss, um jeden Preis.
Es ist schwer für ihn, an gewünschte Unterlagen zu kommen. Vandeveld stellt eigene Untersuchungen an - und kommt zu dem Schluss: Erstens ist der Junge unschuldig. Zweitens sind seine Aussagen erzwungen, sie dürften gar nicht gerichtlich verwendet werden. Er erarbeitet gemeinsam mit Jawads Verteidiger, mit dem er mittlerweile befreundet ist, eine außergerichtliche Lösung. Jawad soll nach Afghanistan zurückgeschickt und dort reintegriert werden. Der Vorschlag wird von den Vorgesetzten zurückgewiesen.
Darrel Vandeveld wird klar, dass er Teil eines nicht rückgängig zu machenden Unrechtssystems geworden ist. "Es war egal, wie sie Guantanamo weiter rechtfertigen wollten, durch Militärkommissionen oder durch Untersuchungen", sagt er. "Der Fehler lag am Anfang, in den erzwungenen Aussagen, in der fehlenden Rechtmäßigkeit. Nichts, was danach kam, hätte dieses erste Unrecht zu Recht machen können."
Aus Zweifel wird Verzweiflung. Soll er nun alles riskieren - seine Karriere, seine Freunde, die ihn wohl nicht verstehen würden, seine Familie, seine Sicherheit? Sein ganzes gutes amerikanisches Leben? Mit wem kann er darüber reden? Er zieht sich von den, wie er sie heute nennt, "ideologisierten" Kollegen in Washington zurück. Er ist viel allein in diesen Tagen. Seine Frau, seine Familie daheim in Erie will er nicht belasten. In seiner Not wendet er sich seinem katholischen Glauben zu - aber nicht der militanten Version, wie sie von vielen amerikanischen Konservativen praktiziert wird.
Darrel Vandeveld liest das Neue Testament und entdeckt in der christlichen Nächstenliebe die moralischen Grundlagen für seine weiteren Entscheidungen. Und weil er nicht weiß, an wen er sich sonst wenden soll, schreibt er eine E-Mail an einen pazifistischen Jesuitenpriester, Father John Dear. Zu viele Informationen darf er nicht verraten, sie unterliegen der Geheimhaltung. Er erwartet auch nicht viel. Doch der Jesuit antwortet schnell. Und lässt ihm keine Ausflüchte: "Verlasse Gitmo. Die ganze Welt weiß doch, dass das eine Farce ist. Weigere Dich, mit dem Bösen zusammenzuarbeiten, beginne Dein Leben neu."
Sieben Militärstaatsanwälte bitten um ihre Versetzung aus Guantanamo
So einfach? Darrel Vandeveld zögert noch einmal, schreckt vor diesem letzten Schritt zurück, "obwohl ich eigentlich nur die Bestätigung dessen bekommen habe, was ich im Innersten schon selbst erkannt hatte." Drei Tage zieht er sich in ein Kloster bei Washington zurück, mit Nelson Mandelas Autobiographie, mit Reden von Martin Luther King und vom Dalai Lama.
Dann, im September 2008, bittet er um seine Versetzung aus Guantanamo.
Er ist der siebte Militärstaatsanwalt der Guantanamo Militärkommission, der um Versetzung oder einen Einsatz an anderer Stelle bittet. All diese Militärankläger halten die Vorgehensweise Amerikas auf Guantanamo für grundsätzlich und unveränderlich ungerecht. Als seine Vorgesetzten erfahren, was Darrel Vandeveld da will - und dass er es vor der Öffentlichkeit tut, wird er in Washington praktisch unter Hausarrest gestellt. Wochenlang. Er weiß nicht, wie lange er allein in der Wohnung bleiben muss. Nicht einmal seine Frau darf von diesem Arrest wissen. "Und ich hätte ihr auch nichts gesagt, wie hätte sie mir denn helfen können." Tag und Nacht rufen Journalisten bei ihm an. Aber er unterliegt der militärischen Geheimhaltungspflicht.
"Es gab ja andere Fälle neben Jawad", sagt er heute, "über die ich bis jetzt nicht sprechen kann." Ende dieses Monats wird Darrel Vandeveld aus der Reserve ausscheiden. Aber nicht vorzeitig, denn freiwillig wollte er nicht um seine Entlassung bitten. "Diesen Gefallen will ich ihnen nicht tun. Diesen Stolz habe ich", sagt er, "ich habe zu viel für die Army und dieses Land gelitten." Er wird jetzt von schlimmen Träumen gequält, von Panikattacken, Wutausbrüchen, leidet an seiner emotionalen Abstumpfung.
Mohammed Jawad wurde am 24. August 2009 aus Guantanamo entlassen und nach Afghanistan ausgeflogen.