Nicht erst seit Mario Draghis "Whatever it takes" kennen die Kapitalmarktzinsen nur eine Richtung: nach unten. Der Anteil des Kapitals am Volkseinkommen dürfte seit 2010 erheblich gesunken sein; derjenige der Arbeitnehmer hat sich im selben Zeitraum indessen nur geringfügig erhöht. Der große Gewinner ist der Boden.
Konkret bedeutet das: Vor allem in den Verdichtungsräumen wird das Grundbedürfnis Wohnen immer weniger bezahlbar. Besonders betroffen sind hiervon Haushalte mit geringerem Einkommen. Die Ursache liegt weniger in der Entwicklung der Baukosten, sondern in den mancherorts explodierenden Erträgen und Werten des Bodens. Die Corona-Krise dürfte diesen Trend kaum bremsen. Vor allem der kürzlich verstorbene Hans-Jochen Vogel wurde nicht müde, die Rolle des Bodenmarktes für die Probleme auf dem nachgelagerten Wohnungsmarkt zu betonen.
Wer "macht" eigentlich die Bodenwerte? Dies ist nicht der einzelne Grundstückseigentümer, sondern die Allgemeinheit. Vor allem die öffentliche Infrastruktur schafft die Voraussetzungen für Agglomerationen und Urbanität. Der wirtschaftliche Erfolg und die Lebensqualität einer Stadt wie München wäre ohne Universitäten, Krankenhäuser, S-Bahnen oder die Fußgängerzone nicht denkbar. Die Finanzierung der Infrastrukturmaßnahmen erfolgt vorwiegend über Steuermittel, die zum größten Teil durch Arbeitnehmer und Verbraucher aufgebracht werden. Diese wohnen in den großen Städten vorwiegend zur Miete - fallen die von ihnen finanzierten Infrastrukturmaßnahmen auf fruchtbaren Boden, erhöhen sich ihre Mietrechnungen noch weiter. Öffentlich geschaffene Werte werden auf diese Weise privatisiert.
Was läge daher näher, als Verbraucher, Arbeitnehmer und produktive Investitionen von Abgaben zu entlasten und stattdessen den Boden verstärkt heranzuziehen? Einen solchen Weg schlug Singapur ein. Die Steuerpolitik des Stadtstaates dürfte maßgeblich mit dafür verantwortlich sein, dass es seine ehemalige Kolonialmacht Großbritannien binnen weniger Jahrzehnte wirtschaftlich hinter sich lassen konnte. Obwohl es sich um eine der teuersten Städte der Welt handelt, hat Singapur genügend bodenpolitische Steuerungsfähigkeit und ausreichend finanzielle Kraft, um die Versorgung der Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum zu sichern. Natürlich sind die Voraussetzungen andere als in Deutschland: In Singapur gehört 90 Prozent des Bodens dem Staat.
Nicht der Eigentümer, sondern die Allgemeinheit machen die Bodenwerte: Durch Infrastruktur und Wirtschaft
Doch auch hierzulande bot sich eine historische Chance, die Weichen in eine andere boden- und steuerpolitische Richtung zu stellen. Die alte Grundsteuer, die auf Werten von 1964 (West) bzw. 1935 (Ost) basierte, wurde im April 2018 vom Bundesverfassungsgericht verworfen. Die Gelegenheit, Deutschland im Rahmen einer Grundsteuerreform zukunftsfähiger aufzustellen, wurde jedoch vertan. Das im Hause Scholz entwickelte "Bundesmodell" gilt als kompliziert und als ein visionsloses "Weiter so". Zwar wurde den Bundesländern die Chance eröffnet, vom Bundesmodell abzuweichen und eigene Wege zu gehen. Mindestens sechs Bundesländer wollen von dieser Möglichkeit auch Gebrauch machen. Die Ausgestaltung der Alternativmodelle trägt jedoch die Handschrift der Immobilienlobby. Am extremsten ist das Vorhaben des Freistaates Bayern, wo sich die Grundsteuer nur nach den Boden- und Gebäudeflächen richten soll. Werte spielen überhaupt keine Rolle. Sollte das Vorhaben tatsächlich Gesetz werden, trägt eine in einem sozialen Brennpunkt gelegene, geringwertige Immobilie dieselbe Steuerlast wie eine flächengleiche Villa in bester Stadtlage. Doch auch die anderen Modelle - einschließlich dasjenige des Bundes - zeigen ähnliche Verteilungswirkungen, wenngleich in abgeschwächter Form.
Mieter und Miete:Das Recht zu wohnen
"Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." So steht es im Grundgesetz, Artikel 14. Warum wird Wohnraum in Großstädten trotzdem immer teurer?
Baden-Württemberg hingegen hat als erstes Bundesland ein eigenes Landesgrundsteuergesetz auf den Weg gebracht und schlägt damit einen völlig neuen Weg ein: Die neue Grundsteuer beschränkt sich - einfach - auf die Besteuerung des Bodenwertes, unter Ausnahme der aufstehenden Gebäude. Die Grundstückseigentümer geben so einen kleinen Teil des Nutzens zurück, den sie aus der Bereitstellung der kommunalen Infrastruktur ziehen und der sich in den Bodenwerten niederschlägt. Weil Gebäude ausgenommen sind, wird - anders als in allen anderen Modellen - auch nicht die Schaffung von Wohnraum steuerlich belastet. Davon profitieren in erster Linie die in größeren Städten dominierenden Mehrfamilienhäuser und ihre Mieter. Unter Ökonomen besteht zwar weite Einigkeit darüber, dass die wirtschaftliche Überwälzung der Bodenwertsteuer auf die Mieter schwieriger ist als bei allen anderen Grundsteuermodellen. Dennoch ist im Gesetzentwurf ein steuerlicher Abschlag für Wohnnutzungen vorgesehen. Wird ein Grundstück jedoch nur geringfügig genutzt oder in spekulativer Absicht ungenutzt vorgehalten, ist die Steuer genauso hoch wie bei optimaler Bebauung. So entsteht ein Druck auf eine effizientere Nutzung der knappen Ressource Boden und der Einhaltung planerischer Vorgaben. Weil zudem ein Teil der Bodenerträge nicht mehr in private Taschen, sondern in den Gemeindehaushalt fließt, werden der Bodenwert und dessen Zuwächse gedämpft. Anders als bei allen anderen Grundsteuermodellen werden schließlich wertvolle Immobilien relativ zum Wert höher belastet als weniger wertvolle - Unterschiede in den Immobilienwerten sind nämlich maßgeblich durch unterschiedlich hohe Bodenwerte bedingt.
Die Bodenwertsteuer ist eine alte Idee, die schon von Adam Smith angedacht wurde. Am prominentesten wurde sie vor gut 150 Jahren vom amerikanischen Bodenreformer Henry George propagiert. Dessen Hauptwerk "Fortschritt und Armut" erzielte seinerzeit höhere Auflagen als die Bibel. Verschiedene prominente Ökonomen - darunter auch der Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz - bestätigten seine Auffassung, dass sich die Bereitstellung kommunaler Infrastruktur allein aus dem Boden finanzieren ließe. In der Diskussion hierzulande wurde all dies freilich weitgehend ignoriert. Dennoch: Das letzte Wort in Sachen Grundsteuer dürfte noch lange nicht gesprochen sein.
Dirk Löhr ist Professor für Steuerlehre und Ökologische Ökonomik an der Hochschule Trier (Umwelt-Campus Birkenfeld).