Grundsatzrede in Berlin:Gauck spricht wie ein Präsident

Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck hält im Deutschen Theater eine anrührende Rede. Mit jedem seiner Sätze wird unverständlicher, warum die schwarz-gelbe Koalition unbedingt an einem eigenen Kandidaten festhält.

Thorsten Denkler, Berlin

Es geht auch um Wahlbeteiligung kurz vor Ende der Rede von Joachim Gauck. Das ist an diesem Vormittag im Deutschen Theater in Berlin an sich ein dröges Thema. Seit Jahren sinkt die Neigung der Deutschen, bei Wahlen ihe Stimme abzugeben. Politiker sagen dann, dass sich das ändern müsse, führen aber wie die CDU 2009 Wahlkämpfe, die einzig darauf ausgerichtet ist, die Wähler des politischen Gegners vom Wählen abzuhalten.

Als Joachim Gauck nach 13 Manuskriptseiten an diese Stelle kommt, da bricht ihm die Stimme fast weg. Er greift zu seinem Glas Wasser auf dem Pult, nimmt einen großen Schluck, bevor er - noch benommen - weitersprechen kann. Im Publikum ähnliche Reaktionen. Manche betupfen mit der Spitze eines Taschentuchs ihre Augenwinkel. Andere wischen sich mit dem Handrücken Tränen aus dem Gesicht. So anders kann es sein, über Wahlbeteiligung zu reden.

Gauck spricht das Wort nicht mal aus. Er berichtet lediglich, wie es ihm ergangen ist am 18. März 1990, als in der damaligen DDR die Bürger aufgerufen waren, erstmals in freier Wahl ihre Volkskammer zu bestimmen. Als er endlich das tun konnte, "was für Bürger im Westen seit Großvaters Zeiten ganz selbstverständlich war: in freien, gleichen und geheimen Wahlen die eigene Regierung zu wählen".

Er habe 50 Jahre alt werden müssen, um das zu erleben, sagt Gauck: "Ich blicke zurück und sehe mich am Vormittag des 18. März 1990 aus dem Wahllokal kommen - mit Glückstränen im Gesicht. Und ich sage zu dem Menschen neben mir, was der doch schon weiß: `Ich habe gewählt'"

Für einen kurzen Moment sei "alle Freiheit Europas in das Herz eines Einzelnen gekommen", sagt er. "Und ich wusste: Nie, nie und nimmer wirst du auch nur eine Wahl versäumen." Das ist der Moment, in dem die Tränen fließen. Es ist kein rhetorischer Trick, den Gauck anwendet. Er ist einfach nur ehrlich, offen, authentisch.

Wenig später erheben sich die Menschen im Deutschen Theater und applaudieren. Es ist ein langer, kräftiger Applaus. Keiner, wie es ihn auf Parteitagen gibt, wenn mal wieder ein Vorsitzender Unterstützung braucht. Es ist eher ein Applaus der Dankbarkeit. Gauck hat etwas zu geben, hat die Zuhörer in sein Herz blicken lassen. Und er hat ihre Herzen berührt. Von welchem aktuellen Mitglied der politischen Klasse könnte behauptet werden, so etwas je geschafft zu haben.

Eine gute Stunde lang spricht Gauck. Organisiert und eingeladen hat zu dem Ereignis eine Unterstützergruppe für Joachim Gauck, die sich im Online-Netzwerk Facebook gegründet hat und bereits mehr als 35.000 Mitglieder zählt. Es ist schon der Initiator der Gruppe, der auch diese Rede zu einem überparteilichen Ereignis macht: Der 29-jährige Christoph Giesa aus Hamburg ist FDP-Mitglied.

Auch Kurt Biedenkopf ist da, der CDU-Mann, der kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Kanzlerin aufforderte, die Wahl des Bundespräsidenten nicht parteipolitisch zu instrumentalisieren. Und natürlich sind die Spitzen von SPD und Grünen fast vollständig vertreten. Sie haben sich im Deutschen Theater in die zweite Reihe gesetzt. Erkennbar ein Zeichen dafür, dass Gauck zwar von ihnen als Kandidat aufgestellt wurde, aber alle anderen eingeladen sind, ihn am 30. Juni zu wählen.

Mal ist Gauck links, mal konservativ, mal grün, mal gelb

Gauck, 1940 geboren, will sich hier vorstellen. Will erklären, warum ihm der Begriff Freiheit zum Lebensthema geworden ist. Die "Angstaugen" in den Gesichtern der Erwachsenen in den ersten Jahren nach dem Krieg. Wie der Vater "abgeholt" wurde und in Sibirien verschwand. Wie er mit zwölf Jahren dem "Freiheitspathos von Friedrich Schiller verfiel" und mit 13 "wie ein Fiebernder am Radiogerät die Ereignisse des 17. Juni verfolgte", dem Volksaufstand in der noch jungen DDR von 1953.

Joachim Gauck

Der Kandidat von SPD und Grünen spricht im Deutschen Theater in Berlin - und ein besserer Kandidat ist danach kaum vorstellbar: Joachim Gauck begeistert bei seiner Grundsatzrede.

(Foto: ap)

Sein Leben ist ein Leben mit und in Diktaturen, ein Leben im inneren und im gelebten Widerstand, das in den Wendejahren 1989/1990 gipfelte in der Erkenntnis: "Auch Deutsche können Revolution, auch Deutsche können Freiheit."

Nicht alle aber können damit umgehen. Da gebe es die "aus dem Paradies Vertriebenen", sagt Gauck. Diejenigen also, die glauben, mehr verloren als gewonnen zu haben, die sich zurück nach alter Ordnung sehnen. "So tauschten sie die Einmaligkeit der Freiheit gegen die bequeme Ohnmacht der nie und nirgends Verantwortlichen." Und entledigen sich so der "unerträglichen Last der Eigenverantwortung".

Ihm reicht das nicht. Von Migranten fordert er im Sinne der Freiheit, ihren Kindern Deutsch beizubringen und es besser noch selbst zu lernen. Von der Politik fordert er ein Sozialsystem, das in der Not hilft, die Bedürftigen aber befähigt, für sich selbst zu sorgen. Es gehe nicht um Fürsorge. Die wirke "entmächtigend", wenn der "Staat die Rolle des gütigen Fürsten annimmt, dessen Gestus die Empfänger zu Mündeln macht".

Gauck fordert Bürgersinn von den Menschen aus allen Schichten. Er zählt dazu auch das deutsche Engagement in Afghanistan. Solange deutsche Soldaten dort aus Solidarität und im Auftrag der Vereinten Nationen eingesetzt würden, "kann ich einen derartigen Einsatz nicht verurteilen", sagt er. Er fühle mit, "wenn ich die Trauer der Mütter sehe, die ihren Sohn verloren haben". Aber: "Nicht Verantwortungslosigkeit hat ihre Söhne geschickt, sondern aus Verantwortung wurden sie geschickt und aus Verantwortungsbereitschaft sind sie gegangen."

Mal ist Gauck links, mal konservativ, mal Mitte, mal grün, mal gelb. Er eckt bei allen an und doch können sich alle mit ihm identifizieren. Immer aber vertritt er einen festen Standpunkt, der Debatten zulässt und Nachdenklichkeit erzeugt.

Da erscheint es immer seltsamer, dass Union und FDP lieber einen Kandidaten in die Wahl schicken, der so offensichtlich aus parteitaktischen Gründen auserkoren wurde, als Joachim Gauck zu unterstützen. Nach diesem Vormittag im Deutschen Theater jedenfalls ist ein besserer Präsidentschaftsbewerber kaum vorstellbar.

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