Manchmal können Niederlagen nützlich sein. Auch wenn sie weh tun. Für die Grünen ist das gescheiterte Bemühen um ein Jamaika-Bündnis eine solche Niederlage gewesen. Einerseits ist es mit dem großen politischen Einfluss fürs erste nichts geworden; andererseits erlebte die Partei von der Spitze abwärts auf bemerkenswerte Weise, wie sehr sie alle zusammengehören.
Für die neue Parteiführung hätte es deshalb kaum besser laufen können. Jedenfalls gemessen daran, was sie mit den Grünen ab sofort vorhat. Annalena Baerbock und Robert Habeck wollen die Partei nicht nur repräsentieren, sondern die eigenen Leute zu einem Kraftakt zwingen. Dem Kraftakt, der im politischen Geschäft oft am schwersten ist: Die Grünen sollen sich selbst hinterfragen.
Das Wort radikal fällt in der Partei wieder häufiger. Am radikalsten aber ist das, was Baerbock und Habeck den Grünen selbst abverlangen möchten. Die Grünen-Spitze will die Partei in einer Zeit radikaler Unsicherheiten nicht nur zum zentralen Ort der wichtigsten Debatten machen. Sie möchte alte Fragen neu stellen, und sie möchte dabei nichts Geringeres tun als die wichtigsten Pfeiler zu überprüfen.
Michael Kellner im Gespräch:"Ich finde, der Begriff Volkspartei ist letztes Jahrhundert"
Die Grünen reißen ihre Fenster auf - und wollen auch sehr strittige Fragen neu diskutieren. Ihr Bundesgeschäftsführer Michael Kellner über die neue soziale Frage, die derangierte Linke und den Zusammenhang zwischen Bienenschutz und Grundeinkommen.
Das fängt schon an bei der Frage, um wen sich die Grünen überhaupt kümmern. Baerbock wie Habeck werben dafür, das Selbstreferentielle aufzugeben und nicht mehr nur mit sich selbst zu reden. Sie wollen dorthin gehen, wo die Zweifler und die Gegner leben. Beide wollen nicht mehr nur bei den eigenen Leuten werben; sie wollen die eigenen Leute dazu bewegen, ihren Blick auf die Ängste und Sorgen von Kohlearbeitern, von Krankenschwestern und Altenpflegern zu lenken. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht gewesen.
Noch provokanter könnten für die Grünen die Debatten um die Gefahren und den möglichen Nutzen von Gentechnik werden, wenn diese - vielleicht - doch dazu beitragen könnte, in bestimmten Regionen der Welt den Hunger zu bekämpfen. Ähnlich unangenehm dürfte die Frage werden, wie man umfassend mit der globalen Flüchtlingskrise umgeht, ohne zu suggerieren, man könne diese Krise immer und alleine in Deutschland lösen.
Und das ist noch nicht alles. Baerbock und Habeck wollen auch über Sicherheiten reden, dazu zählen sie auch die Ängste der Menschen vor Gewalt und Einbrüchen. Und die Frage, wie ernst es den Grünen mit einem starken Europa ist, wenn ein Donald Trump dieses Europa zwingt, sich viel stärker um die eigene Sicherheit zu kümmern. Mit Krisenprävention, aber auch mit Waffen.
Was Baerbock und Habeck da verlangen, ist einerseits bitter nötig, andererseits hoch gefährlich. Es ist dringend nötig, weil sich in den vergangenen Jahren die Welt dramatisch verändert hat, mit den Trumps, Putins und Erdogans. Auch die Rechtsradikalen und Populisten, die sich breit machen und die Demokratie in Frage stellen, machen die Lage komplizierter. Ihnen die Anhänger zu entziehen, verlangt womöglich viel mehr, zum Beispiel einen anderen Umgang mit den echten Sorgen der Ostdeutschen.
Die Beispiele zeigen, wie sehr die neue Grünen-Führung das Fenster aufreißen möchte. Aber was schön klingt, dürfte ein harter Kampf werden. Zu viele in der Partei sind es nicht gewohnt, sich neben sich zu stellen, zu viele hängen an den alten, gewachsenen Gewissheiten, die ihnen Halt und Identität geben.
Gleichzeitig haben die Debatten auf dem so genannten Startkonvent für ein neues Parteiprogramm an diesem Wochenende gezeigt, wie hungrig die Grünen sind, offen über die Fragen zu sprechen, die ihnen in einer durch Trump, Brexit und AfD herausgeforderten Zeit auf den Nägeln brennen. Das aber sagt nur eines: Wie wichtig dieser Prozess ist, weil die allgemeine Verunsicherung auch die allermeisten Grünen umtreibt.
Die Grünen:Baerbock und Habeck verkörpern alles, wonach die Partei sich sehnt
Die Delegierten klatschen und klatschen, als die beiden neuen Vorsitzenden zu ihnen sprechen - über Klimaschutz, Migration und Gerechtigkeit. Es wird deutlich wie selten: Mit ihnen wollen die Grünen in eine neue Zeit aufbrechen.
Zur Mühe kommt ein bisschen Glück: Die Grünen starten diesen Prozess in einem Moment, in dem die meisten anderen Parteien dazu entweder nicht in der Lage sind oder sich bewusst gegen ein solches Risiko entscheiden. Am stärksten fällt das bei der SPD auf. Gemessen an dem, was die Grünen da anstoßen, wirken alle Bemühungen der Sozialdemokraten ängstlich und halbherzig - und das wird mit der Fortsetzung der großen Koalition nicht einfacher werden. Gut möglich, dass die designierte Parteichefin Andrea Nahles Ähnliches gerne tun würde. Aber genauso wahrscheinlich ist, dass die Sozialdemokraten ihre traditionelle Zerrissenheit zwischen den Oberbürgermeistern mit ihren sehr realen Sorgen und den Oberstudienräten mit ihren leidenschaftlichen Überzeugungen auch in den nächsten Jahren nicht überwinden können.
Der Mut der Grünen könnte der SPD gefährlich werden
Aus diesem Grund kann es in der Tat passieren, dass die Grünen der SPD gefährlich werden. Einen ersten starken Hinweis darauf könnten im Herbst die bayerischen Landtagswahlen liefern. Bislang jedenfalls zeigen die Umfragen, dass die Differenz zwischen Grün und Rot nicht mehr groß ist.
Noch schwächer wirkt die Linkspartei. Sie tut seit Monaten, vielleicht seit Jahren unentwegt nur noch das, was am einfachsten ist: sich an sich selbst festhalten. Daran ändern auch die schärfsten Konflikte zwischen Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht nichts. Bei beiden ist kein Aufbruch, kein neues Denken angesichts der weltweiten Umwälzungen zu erkennen. Stattdessen wirken ihre Konflikte wie das eitle Ringen um die alleinige Herrschaft.
Gewonnen haben Baerbock und Habeck freilich noch nichts. Geerntet haben sie neben den leidenschaftlichen Debatten von Berlin nur die lauten Zwischenrufe der Kritiker, die ihren Plan am Ende zerstören könnten. Wenn beim Reizwort Gentechnik, beim Umgang mit Ängsten oder bei einer neuen, auch militärischen Verantwortung Europas nicht diskutiert, sondern aufgeschrien wird, kann daraus nichts Produktives, Kluges, Neues erwachsen. Klammert sich die Partei mehrheitlich lieber an alte Gewissheiten, dann wird der Versuch der Grünen-Spitze ins Leere laufen. Baerbock und Habeck zeigen großen Mut. Ihre Initiative hat das Potenzial, neu in die Gesellschaft auszugreifen. Aber sie kann auch gegen die Wand laufen.