Süddeutsche Zeitung

Grundsatzprogramm:Die Grünen wollen sich neu erfinden

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Von Constanze von Bullion, Berlin

Sie sind keine hundert Tage im Amt, und der Aufbruch in die neue Zeit erinnert ein wenig an einen Auftritt im Zirkus. "Wir müssen das Politische zurückholen. Wenn wir das nicht tun, versagen wir als politische Partei", sagt Robert Habeck sagen. "Warten und Zuschauen ist nicht unser Ding. Wir haben Bock auf besser", ruft Annalena Baerbock.

Freitagabend in einer ehemaligen Lagerhalle im Berliner Westhafen, zwischen alten Gemäuern ist eine Art Arena aufgebaut. In der Mitte des Raums auf einem Podest steht wie eine Dompteurin die neue Parteichefin der Grünen, Annalena Baerbock. Sie trägt ein Headset, das ihre Stimme lauter werden lässt als nötig. Neben ihr dreht Robert Habeck seine Kreise, wie Baerbock steht er seit Januar an der Spitze der Grünen. Im Kreis drumherum: die Parteimitglieder, die bei diesem "Startkonvent" Fragen stellen und beginnen, ein neues, grünes Grundsatzprogramm auszuhandeln. Bis zum 40. Geburtstag der Grünen im Jahr 2020 soll es fertig sein.

Zwei Tage wird in Berlin über Ökologie und Zuwanderung diskutiert, über Gentechnik, Gerechtigkeit, Fleischverzicht, die Wissensgesellschaft, den Wohlstand, die Meinungsfreiheit und über ethische Grenzzonen. Heimatexpertinnen und Pflegefachleute werden hier gehört. Die Fragen sind zahlreicher als die Antworten, und manches "greift noch zu kurz", sagt eine Referentin. Gemeint ist das "Impulspapier" zum Auftakt der Grundsatzdebatte, das der Parteivorstand verfasst hat.

171 Seiten umfasst das bisherige Grundsatzprogramm der Grünen

Unter dem Titel "Neue Zeiten. Neue Antworten" hat die Grünenspitze ihre Basis aufgefordert, Herzensanliegen neu zu diskutieren und Abschied von alten Gewissheiten zu nehmen. Nach den Gründerjahren und rot-grünen Regierungsjahren im Bund habe sich die Partei zuletzt nicht recht weiterentwickelt. "Es war, wenn wir ehrlich sind, eine Zeit wie ein Spagat, in der wir gelernt haben, aus uns selbst heraus stark zu sein. Aber im Spagat kommt man nicht voran", heißt es im Impulspapier. Rechtsnationalismus und Umbrüche der Digitalisierung machten eine "Rückbesinnung auf das Politische" nötig.

Ein Kompliment für die Vorgänger an der Grünenspitze ist das nicht, aber das ist wohl auch nicht die Absicht. Anders als 2002, als das derzeitige Grundsatzprogramm verfasst wurde, müssten die Grünen heute nicht mehr eigene Werte hinterfragen, sagt Robert Habeck in Berlin. "Was wir müssen, ist unsere Werte an den neuen Herausforderungen messen."

Grüne sollen nicht selbstreferenziell über Grüne und über sich selbst reden, sondern über die veränderte Welt um sie herum, soll das heißen. Mit der Digitalisierung der Arbeitswelt etwa würden erhebliche Werte geschaffen, während herkömmliche Arbeitsformen verschwänden. Es stelle sich die Frage einer "Garantiesicherung" für Arbeitnehmer, heißt es im Vorstandspapier. Ein bedingungsloses Grundeinkommen lehnten die Grünen bisher ab. Parteichef Habeck sympathisiert damit. Der Mensch dürfe "nicht zum Kapital" einer entfesselten, durchdigitalisierten Marktwirtschaft werden. Wer Milliarden mit sozialen Netzwerken verdiene, müsse zum Gemeinwohl beitragen, fordert Parteichefin Annalena Baerbock. "Es kann nicht sein, dass der Buchladen um die Ecke seine Mehrwertsteuer zahlt, aber Facebook und Google nicht."

Nein zur Gentechnik soll diskutiert werden

Für Ärger sorgt schon vor dem Startkonvent die Forderung, das grüne Nein zur Gentechnik zu überdenken. Es stelle sich die Frage, "ob bestimmte neue Technologien nicht helfen könnten, die Versorgung mit Nahrungsmitteln auch dort zu garantieren, wo der Klimawandel für immer weniger Regen oder für versalzenen Boden sorgt", schrieb der Parteivorstand.

Der Protest folgte sogleich. "Was Mittel zur Lösung von Welternährungsfragen und Klimakrise angeht, so zeigen alle Erfahrungen, dass es dazu Gentechnik nicht braucht", sagte der grüne Bundestagsabgeordnete Harald Ebner der Nachrichtenagentur Reuters. Auch die Grüne Jugend maulte. Sie wünsche sich ein mutigeres Eintreten für eine "grüne Politik der Zukunft", sagte Sprecherin Ricarda Lang dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Kritik gab es auch, weil die Gleichstellung von Frauen im Vorstandspapier nicht vorkam. "Feminismus ist ein zentraler Grundsatz von uns Grünen; eine unserer wichtigsten Wurzeln ist die Frauenbewegung", heißt es in einem Aufruf, den zahlreiche Grünen-Politikerinnen unterzeichneten. Das Anliegen soll nachgetragen werden.

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SZ vom 14.04.2018
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